Emil Zopfi Text, Urs Siegenthaler Bild

Computerkurse für Menschen mit geistiger Behinderung

"Der Computer gibt mir das Zeichen zum Lernen"

Patrick beugt sich tief über die Tastatur, er ist sehbehindert, seine linke Hand ist missbildet, doch mit der rechten tippt er unermüdlich Buchstabe um Buchstabe. Rita Streicher, die Kursassistentin, diktiert geduldig den Text und hilft ihm bei den Mehrfachtasten. "Fehler korrigieren" steht an der Wandtafel, es ist das Thema der Lektion im Computer-Grundlagenkurs des Zürcher Bildungsclubs für Menschen mit geistiger Behinderung. Patrick hält inne, sein Gesicht ist vor Begeisterung gerötet. Tagsüber arbeitet er in einer geschützten Werkstatt. "Kuverts einpacken und so. Nicht optimal." Seine Hobbys sind "schlafen, essen, Fernseh schauen." Schon lange habe er vom Computer gehört, und als er die Kursausschreibung las, habe er sich gesagt: "Läck, jetzt muss ich mich aber mal am Kragen reissen." Obwohl er als Sonderschüler schulisch immer hintendrein war.

Behindertes Computertalent

Patrick protestiert lautstark. Sein Text, am Bildschirm in Grossschrift dargestellt, ist am Laserdrucker zu klein herausgekommen, er kann ihn nicht lesen. Rita klickt sich locker durch ein paar Macintosh-Fenster, eine Hand in der Hosentasche, und löst das Problem. Auch sie hat im Computerkurs des Bildungsclubs den Einstieg in die neue Technologie gefunden und einen neuen Lebensinhalt. Nach einer Karriere durch Sonderschulen und sechs Heime setzte sie sich eines Tages hin und beschloss, ihre Lebensgeschichte aufzuschreiben. "Jemand sagte mir, mit dem Computer gehe das einfacher als von Hand. Da komme ich doch nicht draus, dachte ich."

"Rita entpuppte sich als Naturtalent am Computer", sagt Kursleiter Thomas Hofer. Sie besucht jetzt auch Kurse für "sogenannt Normale", wie sie sagt, und muss ihnen sogar manchmal helfen. "Sie haben oft weniger Kraft, weniger Geduld und Hingabe als wir Behinderten." Seit drei Jahren wohnt Rita in einer eigenen Wohnung, dort steht auch ihr Multimedia-PC mit ihrer Lebensgeschichte im Speicher, 13 Seiten Text. In der Freizeit wiederholt sie die Übungen aus dem Kurs und ihr Traum ist eine Computer-Anlehre. Den Job als Assistentin macht sie schon zum dritten Mal. "Wenn Rita einmal fehlt, habe ich einen totalen Stress", sagt Thomas Hofer. Der ehemalige Sekundarlehrer ist im Hauptberuf wissenschaftlicher Mitarbeiter in der kantonalen Verwaltung und absolviert ein Nachdiplomstudium in Umwelttechnik. Am Kurs hat er auch nach einem Dutzend Mal noch einen "Riesenspass".

Der Bildungsclub der Pro Infirmis des Kantons Zürich bietet seit zehn Jahren Computerkurse für geistig behinderte Erwachsene an, seit 1993 jedes Semester einen Einführungs- und einen Aufbaukurs in den Räumen der kantonalen Schule für berufliche Weiterbildung EB Wolfbach in Zürich. Rund 250 Personen haben bisher teilgenommen, die Nachfrage ist gross, viele müssen abgewiesen werden. Heute bieten Bildungsclubs oder andere Institutionen in fast allen Kantonen der Schweiz ähnliche Kurse an.

Rick Skelton, Leiter des Bildungsclubs Zürich zieht für die Zielgruppe den Begriff "Menschen mit besonderen Bildungsbedürfnissen" vor. Denn man wolle sich nicht an Defekten und Behinderungen orientieren, sondern an Möglichkeiten und Fähigkeiten und diese entwickeln. Die Idee der Beschäftigungstherapie sei überholt, sagt er. "Themen, welche die Gesellschaft als wichtig betrachtet wie Computer oder die englische Sprache, werden auch von Behinderten hoch eingestuft. Unsere Massstäbe sind auch ihre." Das Nachziehen von Assistenten gehört zum Konzept der Kurse, sie leisten wichtige Übersetzungsarbeit, denn sie wissen, was es heisst, in dieser Gesellschaft mit Behinderungen zu leben.

Das Geheimnis der Blackbox lüften

Den Teilnehmern - in diesem Kurs zehn Männer - die einen Text eingetippt haben, erklärt Thomas Hofer das Korrigieren. "Zuerst das falsche Wort mit der Maus anmalen, dann das richtige darübertippen." Ein Text ist vorbereitet, die falschen Wörter sind zur Erleichterung unterstrichen. Grosses Staunen, als Thomas zeigt, dass es eine Funktion gibt, mit der man einen Bedienungsfehler wieder rückgängig machen kann. Bei Roman, einem jungen Italiener, der sich "intensiv weiterbildet" um vielleicht doch einmal einen Job zu finden, kommt der Rat allerdings zu spät. "Doofer Text", schimpft er und beginnt wieder von vorn mit Eintippen. Trotzdem ist er total fasziniert von der Maschine, auf der man "zeichnen und schreiben und vieles mehr machen kann."

"Der Kurs soll den Zugang zum Computer ermöglichen, das Geheimnis etwas lüften, so dass er nicht mehr eine Blackbox ist", erklärt Thomas Hofer. "Auch behinderte Menschen treffen täglich auf den Computer und spüren, dass es eine wichtige Sache ist." Zu Kursbeginn macht er jedoch klar, dass es nicht um berufliche Qualifizierung gehen kann. Es sollen keine falsche Hoffnungen geweckt werden. Trotzdem setzt er Standardsoftware ein, die in der Arbeitswelt verbreitet ist. "Am meisten interessiert Textverarbeitung. Zeichnen ist für die Leute gleichbedeutend mit Spielen, sie wollen jedoch arbeiten. Manche fangen auch dank dem Computer wieder an, Texte zu schreiben." Aufnahmebedingungen in die Kurse gibt es keine, das Mindestalter ist 18. Es melden sich Menschen mit Dow-Syndrom, mit Lernstörungen, Cerebral Gelähmte, Autisten, psychisch Kranke an. Die meisten können einigermassen lesen und schreiben. Thomas Hofer stellt klar: "Die Behinderung ist kein Thema im Kurs, sondern der Computer." Einem aufgeregten Teilnehmer führt er auch einmal beruhigend die Hand mit der Maus "im Hukepack" oder klopft ihm auf die Schultern.

Dass der Kurs trotzdem die Hoffnung weckt, sich auch im meist monotonen Arbeitsalltag verändern zu können, lässt sich nicht verhindern. Rolf, der etwas melancholisch vor dem Bildschirm sitzt, erzählt, dass er sich einen Computer angeschafft habe für die Buchhaltung seines Ein-Mann-Reinigungsunternehmens. Michael, der in einer geschützten Werkstatt für die Swissair Kopfhörer revidiert, verkündet frohgemut: "Ich bin ganz auf Computer umgestiegen!"

Was fasziniert ihn denn so? "Er gibt mir das Zeichen zum Lernen. Er hilft mir bei der Arbeit. Ich kann meine Gedanken lösen. Ja, ich gebe mir richtig Mühe, ich will mich weiterbilden. Mein Ziel ist nur noch Computer." Seine Begeisterung kennt keine Grenzen. Und dann holt er ein ungelenk von Hand geschriebenes Sitzungsprotokoll seiner Werstattgruppe hervor und beginnt es einzutippen.

Auch Behinderte treffen bei ihrer Arbeit täglich auf Aufgaben, die mit Computerhilfe einfacher oder besser gelöst werden können. Martin, der beim Abfuhrwesen arbeitet, wurde sogar selber aktiv. Er tippte im Kurs den Waschplan für die Überkleider in den Computer, den man bisher von Hand geführt hatte.

Behinderte arbeiten meist als Angelernte, wenn sie überhaupt eine Anstellung finden. Ihre Weiterbildung fällt deshalb nicht unter das Berufsbildungsgesetz, was Rick Skelton bedauert, denn damit hätten sie eine solidere Grundlage. Heute werden die Kurse vorwiegend vom Bund und der IV finanziert, Stadt und Kanton leisten Beiträge. Die Teilnehmer/innen bezahlen ein bescheidenes Kursgeld.

Lebenshilfe für die elektronisierte Umwelt

Nicht nur die Arbeitswelt, auch der Alltag verlangt immer mehr Computerkompetenz. Billettautomaten, Bancomaten, Infokioske, Videorecorder, die Waschmaschine und bald auch das Telefonbuch sind computerisiert - ihre Bedienung bringt oft nicht nur behinderte Menschen zum Verzweifeln.

"Viele Pädagogen hofften, dass diese Personengruppe von den Neuerungen der Technik verschont bleibe", schreibt Günter Blesch von den Johannes-Anstalten in Mosbach, einem deutschen Arbeits- und Wohnheim für geistig Behinderte, das selber Computer einsetzt und Software entwickelt. Ohne Grundkenntnisse werden die behinderten Menschen zunehmend von den modernen Lebens- und Lernhilfen ausgeschlossen - und damit doppelt behindert.

Annemarie zum Beispiel ist sechzig, IV-Bezügerin mit einem geschützten Arbeitsplatz in einer Nähstube. Sie hat keinen Kurs besucht, aber weil sie gern zeichnet, lernte sie am Computer ihres Bruders ein Paintprogramm mit Pinsel, Füllwerkzeug und Farbpalette bedienen - überraschend mühelos. "Es ist ja gar nicht so schwierig", redete sie sich immer wieder zu. Nach der kurzen Erfahrung wagte sie sich in einem Museum an den Touchscreen einer Infosäule und arbeitete sich schliesslich während mehreren Besuchen durch sämtliche Informationen.

"Wir können mehr als nur Schrauben verpacken", lautet der Titel eines Buches über den Einsatz des Computers bei Menschen mit geistiger Behinderung. Der Herausgeber Riccardo Bonfranchi hat in Sonderpädagogik promoviert und bildet Sonderschullehrer aus, unter anderem in Computerdidaktik. Das Recht auf Bildung für alle, so argumentiert er, bedeute auch für alle "das gleiche Anrecht auf Schulung und Benützung elektronischer Hilfsmittel inklusive Computer". Während in der Heilpädagogik für Seh-, Hör- und Körperbehinderten die Akzeptanz des Computers gross ist, weil die Betroffenen mit Computerunterstützung in den Arbeitsprozess integriert werden können, stellt er für geistig Behinderte ein Defizit fest. Vor allem die Haltung der Lehrkräfte müsse sich ändern, fordert er, viele betrachteten das neue Medium als Konkurrenz. Doch: "Das Nicht-Benutzen oder -zur-Verfügung-Stellen elektronischer Hilfmittel für Menschen mit einer geistigen Behinderung verhindert Integration und Unabhängigkeit." Er selber ist durch die Praxis als Heilpädagoge ein "kritischer Bejaher des Computers" geworden, weil er beobachtete, wie Schüler mit einem kaputten Selbstbewusstsein und grossen Bildungsdefiziten am Computer plötzlich aktiv zu lernen begannen. Neben dem Arbeiten mit Standardsoftware sind in Bonfranchis ganzheitlichem didaktischem Konzept Spielen und Lernen wichtige Bausteine. Spielerisch lernen können auch Kinder und Erwachsene, die Zahlen und Buchstaben nicht beherrschen. Bonfranchi empfiehlt dafür die Software BLOB, die in England entwickelt und von IBM Deutschland und der Bundesvereinigung Lebenshilfe in Marburg für den deutschen Raum adaptiert worden ist. BLOB kann in mehreren Stufen den Fortschritten der Lernenden angepasst werden und schult unter anderem Motorik, Wahrnehmung, Sprache und Denken. Auf höherem Niveau kommen Zahlen und Mengenbegriffe dazu. Dabei begleitet "Blob", eine freundlich lächelnde Wolke, die Lernenden durch das Programm.

Bonfranchi bedauert, dass wenig in die Entwicklung geeigneter Software investiert wird. Da der Markt zu klein ist, findet kaum Innovation statt. Es gebe zwar viele "Feierabend-Schrottprodukte", in guter Absicht entwickelt, aber zuwenig durchdacht und ausgereift. Ein weiteres Problem ist, dass Software, die aus Deutschland kommt, meist nur auf dem PC lauffähig ist, während die Schweizer Bildungsinstitutionen mehrheitlich mit Macintosh ausgerüstet sind.

Gemeinsam mit "sogenannt Normalen" lernen

"Geistig Behinderten wird heute zugemutet, nicht nur konkrete Sachverhalte zu verstehen, sondern auch zur Abstraktion fähig zu sein", sagt Felix Studer vom Heilpädagogischen Institut der Universität Freiburg. Er versteht geistige Behinderung als Entwicklungsverzögerung, die nicht irreversibel sein muss. "Geistige Behinderung ist nichts anderes als eine Erschwerung der Lernprozesse, wobei diese einen grösseren Grad annehmen als bei Personen, die herkömmlich als lernbehindert bezeichnet wurden."

Studer hat das Programm "Training kognitiver Strategien" entwickelt, es ist auf Mac und PC lauffähig und in fünf Sprachen übersetzt. Die Lernenden müssen eine geometrische Figur nachbilden, indem sie in der richtigen Reihenfolge auf farbige Schablonen klicken. Geschult wird dabei das Erkennen des Problems und das Entwicklen einer Lösungsstrategie. Das Programm analysiert Fehler und gibt Feedback in gesprochener Form. Es richtet sich vor allem an Personen, die Mühe haben, Handlungsabläufe korrekt zu planen und umzusetzen. Die Aufgaben sind sehr abstrakt und auf höheren Schwierigkeitsstufen anspruchsvoll. Laut dem Autor braucht die lernende Person jedoch einen "Mediator", der sie am Bildschirm begleitet und auf den Transfer des Gelernten auf andere Situationen hinarbeitet.

Kursangebote mit eher praktischer Ausrichtung werden bisher vor allem von Menschen mit leichteren Behinderungen benutzt. Der Bildungsclub will laut Rick Skelton solche Menschen in Zukunft vermehrt in die allgemeine Erwachsenenbildung integrieren. Die Lernenden wie auch die Kursleitung werden dabei von Pro Infirmis fachkundig begleitet, denn dabei stellen sich didaktische wie auch soziale Probleme. Von diesem Integrationsprojekt können jedoch alle profitieren. Die Sonderkurse werden zu Gunsten schwerer Behinderter entlastet - und die ausserordentlich hohe Motivation geistig Behinderter könnte sich auf die andern Kursteilnehmer/innen übertragen.

"Ausschalten!" ruft Thomas Hofer, etwas widerstrebend beenden die Kursteilnehmer die Programme, schalten aus, packen ihre Disketten ein. Nur Michael weigert sich, den Platz zu räumen, bis sein Protokoll fertig getippt und ausgedruckt ist. Sogar der Reporter wird eingespannt, bis alle Traktanden in der Kiste sind. Glücklich schlüpft Michael in seine Skijacke und saust ab. Patrick greift nach dem weissen Stock, seine Augen sind schwach, aber sie strahlen. Rita sieht etwas geschafft aus, sie hat nochmals drei Stunden Systemkurs vor sich, zusammen mit "sogenannt Normalen". "Ich will weiterlernen", sagt sie entschlossen, "bis ich an meine Grenze stosse."


Riccardo Bonfranchi (Hrsg.): Wir können mehr als nur Schrauben verpacken ... Der Einsatz des Computers bei Menschen mit geistiger Behinderung. Film Institut, CH-3000 Bern 9

Bildungsclub Pro Infirmis Kanton Zürich, Hohlstr. 52, CH-8004 Zürich.

Heilpädagogisches Institut der Uni Freiburg, Petrus-Kanisius-Gasse 21, CH-1700 Freiburg.

 

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