Emil Zopfi

Steinschlag

200 Seiten, gebunden, CHF 34

Roman aus den Bergen.

Die junge Bergführerin Andrea wird vom alten Amstad für eine Rettungsaktion aufgeboten. War es ein Unfall? Oder sieht Andrea, die Polizistentochter, tatsächlich zu viele Krimis?

Textprobe:

Nach einer Stunde fanden sie die Frau. Sie lag auf einem Felsabsatz in der Runse unterhalb des Wegs, den Kopf an der Kante nach hinten geneigt, den Körper ausgestreckt auf abschüssigen Platten. Ihr Gesicht war bleich und unversehrt, die schmalen Lippen blutlos. Eine Haarsträhne klebte auf ihrer Stirn und verdeckte ein Auge. Das andere blickte glasig in den Nebel, der dem Hang entlang strich.
Andrea hatte sie zuerst gesehen, vom Fußpfad aus, der die Runse an einer abschüssigen Stelle durchquerte. Sie hatte im Nebel einen violetten Farbfleck entdeckt, den Ärmel einer Faserpelzjacke. Es war linke Arm der Frau, der eigenartig verkrümmt über die Felsbank hinausragte, als habe sie im Sturz ihren Kopf schützen wollen.
Amstad kletterte vorsichtig über glitschigen Fels und nasse Graspolster hinab, Andrea folgte ihm. Er beugte sich über die Frau, die auf dem Felsabsatz lag, als ob sie sich zum Schlafen niedergelegt hätte, ergriff ihr Handgelenk, ließ es jedoch gleich wieder los. «Tot. Schon ein paar Stunden.»
Dann strich er ihr die Haarsträne mit einer fast zärtlichen Bewegung aus dem Gesicht. «Tot. Nichts mehr zu machen.» Er biss sich auf die Lippen, wischte sich mit dem Ärmel seiner Windjacke über die Stirn.
Amstad kannte sich aus. Ein erfahrener Bergführer, seit vielen Jahren Obmann der Rettungskolonne. Es war gewiss nicht die erste Leiche, die er bergen musste. Andrea dagegen hatte noch nie einen toten Menschen gesehen. Sie war oberhalb des Felsabsatzes stehen geblieben, hielt sich an einem Felsblock fest, der aus dem Steilhang vorsprang. Blickte auf die Frau hinab, die da lag als ob sie jemand hingebettet hätte, den Kopf an der Kante zur Seite geneigt, den Körper ausgestreckt, die Beine übereinander geschlagen.
So liegt man nicht, wenn man gestürzt ist, war Andreas erster Gedanke. Das Stirnband, im gleichen Violett wie die Faserpelzjacke, war der Toten über einem Ohr hochgerutscht. Blut war durch die Haare gesickert und im Schotter zu einer dunklen Kruste geronnen. Amstad stand neben ihr, die Hände ineinander verklammert, in Schweigen versunken. Vielleicht betet er, dachte Andrea. Vielleicht ist es hier der Brauch, dass der Führer ein Gebet spricht, wenn er am Berg einem toten Menschen begegnet.
«Was denkst du, wie ist es passiert?», fragte sie nach einer Weile, um das Schweigen zu brechen. Amstad trat einen Schritt zurück, zündete sich eine Zigarette an. Sein Gesicht wirkte grau und müde.
«Steinschlag», stieß er hervor. Das Wort klang so hart, als sei es selber ein Stein, der sich löst, fällt und aufschlägt. Sein linkes Augenlid zuckte, als er es aussprach.
«Steinschlag?»
Andrea zog den Kopf ein und warf einen Blick den steilen Hang hinauf. Es war Sommer, doch in den Schluchten der Felswand, die sich über ihnen im Nebel erhob, lagen noch Schneereste. Schmelzwasser konnte Steine mitreißen und sie über die Schutthalden bis auf den Fußpfad schleudern. Durch die Runse rauschte ein Bach, sodass man ihr Aufschlagen kaum rechtzeitig hören und sich in Sicherheit bringen konnte.
«Steinschlag? Sie ist also auf dem Weg getroffen worden. Wie ist sie denn auf das Felsband gekommen? Gestürzt? In dieser Lage liegen geblieben? Wie stellst du dir das vor?»
Er hob die Schultern. «Getroffen, gestürzt. Ihr Ehemann hat das so geschildert. Es wird wohl so sein. Er war ja dabei.»
Amstad hatte am späten Nachmittag angerufen. Andrea stand unter der Dusche. Sie hatte am Morgen eine Wandergruppe übers Joch geführt, ein paar Stunden Fußmarsch durch dicken Nebel. Hatte sich auf einen ruhigen Abend eingestellt. Spaghetti kochen. Fernsehen oder Musik hören. Nackt und nass eilte sie zum Telefon. «Amstad.» Die Rettungskolonne sei aufgeboten, Helikopter könnten nicht fliegen bei dem Nebel. Fußarbeit also. Ob sie bereit sei, ihn zu begleiten.
Es war ihr erster Einsatz, bisher hatte man sie übergangen. Die junge Bergführerin. Neu im Ort. Neu im Beruf. Amstad erklärte, die andern Führer seien unterwegs, und allein wolle er den Job nicht machen. «Wahrscheinlich Leichenbergung», hatte er mit dumpfer Stimme beigefügt. «Kommst du?»
Natürlich kam sie. Fühlte sich sogar etwas geehrt, obwohl sie sich auch fürchtete vor diesem «Job», wie er das Suchen und Bergen einer Leiche bezeichnete. Der Rettungschef bot sie auf, man nahm sie also ernst. Man nahm sie auf in den Kreis. Sie musste zusagen. Und nun stand sie an dem steilen Abhang und blickte auf die tote Frau mit dem wächsernen Gesicht und dem schmalen Körper. Ihr Alter war schwer zu schätzen. Um die fünfzig etwa.
Andrea wartete, dass Amstad entscheiden würde, was zu tun sei. Er zog einen ausgebleichten Biwaksack aus seinem Rucksack.
«Wir packen sie ein. Morgen holt sie der Helikopter.»
«Sollten wir sie nicht so liegen lassen?»
«Über die Nacht? Damit sie der Luchs frisst? Oder die Dohlen ihr die Augen auspicken?»
«Wird es nicht eine Untersuchung geben?»
«Wozu? Ist doch alles klar. Ein Unfall.»
«Ich dachte nur …»
«Was?»
«… das sei vielleicht Vorschrift.»
«Du schaust zu viel Krimis.»
Das stimmte wohl. Wäre sie nicht hier, dann würde sie vor dem Fernseher sitzen. Sie wohnte allein, im Ort hatte sie noch kaum Bekannte, in die Stadt war es zu weit nach einem anstrengenden Tag.
«Von dem Steinschlag müsste man doch Spuren sehen. Frische Steinsplitter. Einschläge.»
«Wahrscheinlich war es nur ein einziger Stein.»
«Hat der Mann die Polizei informiert?»
«Ich denke schon.» Amstad begann den Biwaksack zu entrollen. «Wir müssen vorwärts machen.»
Er war der Obmann, er hatte entschieden. Er riss einen Reißverschluss auf, breitete den Sack neben der Toten auf dem Felsabsatz aus so gut es ging.
Andrea zog ihr Handy aus einer Innentasche ihres Faserpelzes. Sah auf dem Display, dass an diesem Ort kein Empfang möglich war. Ihr Vater war ihr eingefallen. Vielleicht hätte der pensionierte Polizist einen Rat gewusst. Durfte man die Tote anfassen, bevor Spuren gesichert waren? Was war die Vorschrift? Bei ihr bleiben während der Nacht, Totenwache halten? Oder hatte der Bergführer recht, der schon Dutzende von Leichen geborgen hatte? Sicher hatten sie das korrekte Vorgehen bei Unfällen im Führerkurs behandelt, aber in diesem Augenblick erinnerte sich nicht mehr.
Sie steckte das Mobiltelefon ein.
«Halt ihre Füße fest, sonst rutscht sie ab.» Amstad hüllte die Tote ein, zog den Reißverschluss zu und verknotete Bänder. Dann holte er aus dem Rucksack eine Reepschnur, schlang sie um den Felsblock, fädelte ihre Enden durch die Ösen des Biwaksacks. Nun hing die Tote da wie eine gelbe Raupe, die sich an einen Stein geheftet hat, um sich zu verpuppen.
«Das wärs dann.» Amstad zupfte an den Schnüren, um sich zu vergewissern, dass sie gut befestigt waren. Dann zündete er sich nochmals eine Zigarette an. «Rauchst du?» Er streckte Andrea die Packung hin.
Sie schüttelte den Kopf.
«Wen wolltest du anrufen? Polizei?»
«Nicht eigentlich.»
«Was heißt das?»
«Meinen Vater. Er ist früher Polizist gewesen. Pensioniert.»
«Verstehe.» Amstad trat einen Schritt näher, stützte sich mit einer Hand auf den Felsblock. Sein Gesicht war hager, die Haut bildete Furchen, in denen Bartstoppeln spross en. Ein Gesicht wie eine Felswand, dachte sie.
«Es ist wohl deine erste … ?» Er suchte nach Worten. Seine Stimme klang heiser. Als Andrea ihn das erste Mal getroffen hatte, hatte sie geglaubt, er sei erkältet.
«Es ist deine erste Bergung, nicht wahr?»
Sie zog mit der Spitze des Bergschuhs eine Rinne in den Schutt, schaute zu, wie sie sich mit Wasser füllte. Spürte ein Würgen im Hals.
«Man muss sich daran gewöhnen. Als Bergführer.» Er gab ihr einen leichten Stoß an die Schulter. «Oder als Bergführerin. Es gehört zu unserem Beruf.»
Andrea zupfte ein Papiertaschentuch hervor, wischte sich übers Gesicht und schnäuzte sich.
«Gehen wir?» Er hob seinen Rucksack auf. «Danke noch, dass du mich begleitet hast.»
Sie wechselten einen Blick. Seine Augen waren hell und kalt, als ob sie zu einem anderen Menschen gehörten. Das linke schielte ein wenig und das Lid zwinkerte, als ob er sich über etwas lustig mache, das die Tote nicht hören durfte. Er spürte, dass sein Tick Andrea irritierte, drehte den Kopf und begann, zum Weg aufzusteigen.
Es war dunkel geworden. Der Nebel verwischte alle Formen. Sie folgte der leicht vornübergebeugten Gestalt des Bergführers auf dem Pfad, der die Runse durchquerte, einem Felsband folgend, dann über Geröllhalden und Weiden hinab zur Alp. Sie schritten rasch, in Gedanken versunken und ohne weitere Worte zu wechseln.

 

Stimmen zum Roman «Steinschlag»

Hansruedi Brunner, Geschäftsführer der Buchhandlung zum Elsässer, Zürich, «...empfiehlt seinen Kunden die faszinierenden neuen Romane von Emil Zopfi, Ian McEwan und Henning Mankell.» Züri Express, 26.11.2002

Franz Hohler: Mit grosser Spannung bin ich deinem "Steinschlag" gefolgt, bin zuletzt nachts erwacht und hab gedacht, jetzt musst du wissen, wer Claudia wirklich umgebracht hat und hab ihn zu Ende gelesen. Eine schöne Hauptfigur hast du kreiert und sie in dieses missgünstige Bergdorf gesetzt, wo sie wohl auch noch nach einem Dutzend weiteren Bergungen fremd bleiben wird. Auch den kurligen Vater mag man sich gern vorstellen, und wenn im nächsten Buch die
Longline eines Rettungshelikopters zufällig reisst und weder Andrea noch der alte Robert an einen Zufall glauben, bin ich jedenfalls gern wieder dabei.

Evi Bolt, Bergführerin in Ausbildung, Amden: Mir sind ds Kalymnos am chlättere und dis Buech Steinschlag han ich da wellä lese aber wills äsu guät isch han ichs schu fertig ka bevor mir da anchuu sind. Komplimänt, hät mir usinnig guet gfalle.

Ruedi Stolz, Inhaber Ruedi Bergsport, Zürich: Wenn unsere Arme müde sind, schlagen wir dein neues Buch auf und lesen, lesen, lesen. Es hat uns sehr gut gefallen und war spannend bis zum Schluss.

Silvia Honegger, Autorin und Lehrerin: Ich habe «Steinschlag» in die Provence in meine Ferien mitgenommen und konnte gar nicht mehr aufhören zu lesen. Der alte Amstad ist ein eindrücklicher Gegenspieler Andreas. Und deine Andrea, dieser Lonesome Cowboy, hat mich total fasziniert. Ihre Eigenwilligkeit und Bereitschaft, einen hohen Preis für ihre Unabhängigkeit, aber auch ihre Integration in einem feindlichen Umfeld zu bezahlen, hast du total überzeugend dargestellt. Sehr fasziniert hat mich deine hohe Sachkenntnis im Bergsteigermilieu, vor allem auch deine wunderbaren Schilderungen der Natur und ihrer Erscheinungen. Du schreibst leicht und flüssig, so dass man, wenn man nicht genau hinsieht, gar nicht bemerkt, welche Genauigkeit in der Beobachtung und in der Wortwahl dahinter steckt. Spannend war es bis zum Schluss. Und dieser ist genial. Denn ich weiss bis jetzt nicht, ob Andrea erfroren oder gerettet worden ist, auch nicht, was wohl besser für sie gewesen wäre.

Daniel Anker, Buchautor und Journalist, Schweizerischer Bibliotheksdienst, Oktober 2002: Wehe, wenn plötzlich ein Stein fällt. Dafür sitzt jeder Satz. Ein atemberaubender Bergkrimi von jemandem, der beides wirklich kann: klettern und schreiben. Wir hoffen auf eine Fortsetzung, so wie «Die Wand der Sila» aus dem Jahre 1986 mit «Steinschlag» auch eine Fortsetzung fand. Aber wir möchten nicht mehr so lange warten.

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