Für diese Kindergeschichte habe ich 1993 den Schweizer Jugendbuchpreis erhalten. Sie ist 1994 erschienen im SJW-Heft «Verrückte Zahlen».

Die tanzenden Zahlen

In einer Stadt lebte ein Mann, der viel rechnen musste. Weil er davon Kopfschmerzen bekam, kaufte er sich eine Rechenmaschine. Den ganzen Tag sass er vor der Maschine und drückte auf ihre Tasten. Wenn er zum Beispiel die Tasten 6+3= drückte, dann sprang blitzschnell eine 9 in einen Guckkasten, und der Mann schrieb das Ergebnis der Rechnung auf einen Zettel.
Wehe, wenn die Zahlen nicht schnell genug in den Guckkasten sprangen. Dann schlug der Mann vor Ungeduld mit der Faust auf die Rechenmaschine, so dass die Zahlen durchgeschüttelt wurden. Darum sputeten sie sich, wenn sie an der Reihe waren, und blieben dabei schlank und beweglich.
3+7= 8-4= 1+5= 2+6=
9-4= 5+8= 7-7=
So rechnete der Mann von früh bis spät.

Eines Abends aber vergass er die Rechenmaschine auszuschalten. Da stand sie gross und schwarz und viereckig, und der Mond schien durchs Fenster auf ihre Tasten. Als es draussen Zwölf Uhr schlug, flüsterte eine Stimme: «Oh, wie fühle ich mich einsam...»
«Wer bist du?» fragte leise eine andere.
«Ich bin die 1. Und du?»
«Mir geht es ähnlich wie dir. Ich bin verzweifelt», schluchzte die zweite Stimme. «Ich bin die 2.»
«Was erdreistet ihr euch eigentlich so laut zu sprechen», rief jetzt jemand. «Ich habe viel gearbeitet tagsüber und möchte meine Ruhe haben!»
«Wer bist denn du?»
«Ich bin die 3.»
«Dann leiste uns doch Gesellschaft, wenn du schon wach bist.»
Und eins, zwei, drei, hüpften die drei Zahlen ins Guckloch. Da standen sie und schauten in den Raum, den das Mondlicht beleuchtete.
«Was wollen wir unternehmen?» fragte die 3.
«Still», flüsterte die 1.
Sie horchten und vernahmen einen feinen Klang.
«Was ist das?»
«Es klingt wie ein Klavier», sagte die 2. «Ist jemand da?»
«Ja», antwortete eine Stimme. «Ich bin?s, die 4. Hört ihr? Ich mache Musik.»
Nun sahen sie, dass die 4 auf dem Stuhl des Mannes sass und auf die Tasten der Rechenmaschine drückte. Aber statt dass die Maschine rechnete und die Zahlen umherjagte, liess sie eine wundersame Melodie erklingen.
Die 3 verbeugte sich vor der 1. «Darf ich dich zum Tanz bitten?»
Die 1 nickte verlegen. Aber sie liess sich von der 3 auf die glatte Fläche führen, auf der sich das Mondlicht spiegelte. Und dann begannen sie sich langsam im Takt der Musik zu drehen.
Bald tanzten alle Zahlen. Die verzweifelte 2 mit der neunmalklugen 9. Die zünftige 5 mit der charmanten 6. Die stacksige 7 mit der rundlichen 8. Und besonders eng umschlungen tanzten die 3 und die 1, die sich gar nicht mehr einsam fühlte.
Dann wechselten sie ihre Tanzpartner. Die 0 trat der 1 auf die Zehen, aber sie entschuldigte höflich: «Oh, pardon, das waren die Zehn...»
Bei einem Walzer fasste die 5 die 8 kräftig um ihre Taille und wirbelte sie rundum, bis sie ausrief: «Sachte bitte, sachte!»
Als die 4 am Klavier einen Rock?n Roll auf die Tasten legte und dazu sang, rief die 8: «Macht nicht solchen Krach, sonst erwacht der Mann in der Nacht und schöpft Verdacht.» Aber niemand hörte auf sie, und die Zahlen tanzten weiter, allein und zu zweit, eng umschlungen und offen, Tarantella, Salsa, Boogie-Woogie, Jazz, Foxtrott, Polka, Tango. Und die 6 und die 7 tanzten sogar einen feurigen Flamenco. Die andern standen im Kreis um sie herum und klatschten den Rhythmus. Die 6 drehte und wendete sich elegant im Mondlicht, klapperte mit Kastagnetten, und die 7 stampfte im Takt.
«Oh, wie sexy ist doch die 6», hauchte die 2. Und um ihr zu imponieren, setzte sie mit einem Satz auf den Schreibtisch, drückte die Taste eines Kofferradios, sprang auf den Boden, knickte in die Knie, kippte vornüber auf die Arme, stand Kopf, wirbelte rundum, verrenkte die Beine und legte einen wilden Breakdance hin.
In diesem Augenblick ging der Mond unter und es wurde dunkel.
Erschöpft und erhitzt setzten sich alle Zahlen hin. Sie schwatzten fröhlich durcheinander und tranken Kaffee, den die 7 aus der Kaffeemaschine holte und mit Milch und Zucker servierte. Bevor sie die warme Milch einschenkte, fragte sie immer: «Soll ich sie sieben, oder trinkst du sie lieber mit der Haut?
Eng umschlungen sassen die 1 und die 3 in einem Winkel, und als sie sich heimlich ein Küsschen gaben, da flüsterte die 9, die sie neidisch beobachtete: «Jetzt schlägt?s aber 13.»
Da schlug es draussen Ein Uhr, und der Strom schaltete automatisch aus.
«Achtung!» konnte die 8 noch rufen. «Macht, dass ihr in euer Fach kommt!» Da rannten alle durcheinander, die 9, die 7, die 5, die 8, die 6, die 4, die 2 stolperten und purzelten durcheinander und suchten in der Dunkelheit ihre Plätze in der Rechenmaschine. Die 1 und die 3 brachten sich Hand in Hand in Sicherheit.
«Die zwei bringen uns noch Unglück», murmelte die 5.
«Seit wann sind Zahlen abergläubisch?» spöttelte die 9, die neben der 5 Unterschlupf gefunden hatte.
Als letzte rollte die 0 in die Rechenmaschine, suchte ihr Fach, aber da sass schon die 7 drin, also rollte sie weiter bis zu einem leeren Platz.

Am Morgen kam der Mann, setzte sich auf seinen Stuhl und schaltete die Rechenmaschine ein. Zuerst tippte er 5+4=
Es knarrte und quietschte und ächzte in der Maschine drin. Dann hopste die 1 schlaff ins Guckloch.
«Was ist denn heute los?» schimpfte der Mann und schlug mit der Faust auf die Rechenmaschine. Nochmals drückte er 5+4=
Jetzt sprang die 9 ins Guckloch. Der Mann schaute sie an. «Richtig», murmelte er. «ich dachte schon, meine Rechenmaschine sei kaputt.» Er schrieb eine 9 auf seinen Zettel. Dann schaute er nochmals genauer hin. Da bemerkte er, dass die 9 gar nicht die 9 war, sondern die 6, die auf dem Kopf stand.
Und alles Schlagen und Schütteln und Rütteln und Schimpfen nützte nichts. Die Rechenmaschine rechnete falsch, und von diesem Tag an musste der Mann alles wieder im Kopf ausrechnen.

[ Copyright © Emil Zopfi ]