Der Sucher

Das Geld lag auf der Strasse. Man musste es nur aufheben. Entdeckt hatte er das vor Jahren, als er in einer Lebenskrise über den Zürichberg gewandert war, tief in Gedanken versunken mit gebeugtem Haupt. Da sah er auf dem Waldweg ein Geldstück blinken. Fünfzig Rappen. Nicht viel, aber immerhin. Er bückte sich und hob es auf. Wichtiger als der Wert des Fundes war das Zeichen, das er ihm gab. Es gibt einen Weg.

Er kehrte in die Stadt zurück und begann zu suchen. Wo immer Waren in Geld umgetauscht wurden, kam es vor, dass dem Käufer oder dem Verkäufer ein Geldstück aus der Hand fiel und zwischen den Schuhen der Wartenden davonrollte. "Es war nur ein Zehner", sagte dann der Kunde vielleicht nach einem raschen Blick auf den Boden und griff nochmals in die Geldbörse. Oder die Kioskfrau beschwichtigte: "Lassen Sie's. Ich finde es dann beim Wischen. Der Nächste bitte." Wer bückt sich heute noch nach einem Zwanziger oder gar einem Fünfer. Zeit ist Geld.

Er suchte und fand. Er bückte sich und hob auf. Reich wurde er nicht dabei, aber er hatte eine Aufgabe und konnte leben. Morgens führte sein erster Gang den Münzautomaten des Trams entlang. In der Hektik fiel so manches Geldstück aufs Pflaster und rollte in den Rinnstein. Mit der Zeit wusste er, wo sie sich sammelten. Es kam auf die Beschaffenheit des Grundes an, auf die Neigung, auf vorhandene Ritzen und Vertiefungen. Besonders ergiebig waren Roste über Schächten und Regenrinnen. Er hob sie an, griff darunter. Hier fand sich gelegentlich auch ein Fünfliber oder ein Schlüssel. Schlüssel lieferte er im Fundbüro ab, wie auch alle andern Dinge von grösserem Wert: Brieftaschen, Schmuck, Banknoten, Ausweise. Denn er war ein ehrlicher Mann und hielt sich an das Gesetz, das einen Finder berechtigt, alles bis zum Wert von zehn Franken zu behalten, sofern es nicht auf privatem Grund liegt oder in einem öffentlichen Verkehrsmittel. Nach drei Monaten konnte er Banknoten wieder abholen oder den Finderlohn für einen Schlüsselbund, doch war das nur ein Nebenerwerb. Sein Kerngeschäft, wie man heute sagt, war die Suche nach Geld.

"Suchen Sie etwas?", wurde er oft gefragt, wenn er durch die Stadt wanderte, den Blick unentwegt auf den Boden geheftet, wo sich sammelte, was die Menschen so alles fallen liessen.

"Ja", sagte er dann. "Ich suche Geld."

"Oh, haben Sie Ihre Brieftasche verloren?"

"Nein. Geld suchen ist meine Arbeit."

Niemand konnte das verstehen. Geld verdiente man. Geld trug man auf die Bank und legte es an. Selbst für Menschen, die Geld stahlen, zeigte man Verständnis. Viele Leute bewunderten sogar die Posträuber, die am hellichten Tag und mitten in Zürich ein paar Millionen entwendet hatten. Über ihn schüttelte man den Kopf. Ein Spinner, dachten die Leute, und gingen weiter.

Dabei schien ihm seine Tätigkeit keineswegs sinnlos zu sein, denn er brachte Geld wieder in Umlauf, das sonst unnütz herumlag wie Abfall. So leistete er seinen bescheidenen Beitrag zum Kreislauf von Geld und Waren, der die Wirtschaft in Gang hielt. "Geld muss arbeiten", hatte er im Schaufenster einer Bank an der Bahnhofstrasse gelesen. Wenn es im Rinnstein lag oder in einer Rabatte zwischen Hundekot, dann konnte es diese Aufgabe nicht erfüllen.

Übrigens reinigte er die Münzen stets, die er abends in seinem Beutel nach Hause trug, bevor er sie wieder ausgab. Er führte auch genau Buch über Betrag, Fundort und Fundzeit. Dank dieser Statistik konnte er feststellen, bei welchen Gelegenheiten die Menschen am achtlosesten mit ihrem Geld umgingen und seine Route dementsprechend optimieren. Es konnte allerdings vorkommen, dass er nach der Vorabendtour durch die Bahnhofstrasse - sie brachte im Durchschnitt 12 Franken und 40 Rappen ein - auch einmal einen Batzen ungewaschen und ungezählt in den Hut eines Strassenmusikanten fallen liess. Denn er war nicht nur sauber und ehrlich, er hatte auch ein gutes Herz.

Einmal, nachdem er einen Franken in einen Topf der Heilsarmee geworfen hatte und einen Augenblick dem Gesang zugehört, sprach ihn eine der uniformierten Damen an: "Ich habe den Eindruck, Sie suchen etwas, mein Herr."

Er gab die übliche Antwort.

"Suchen Sie nicht nach etwas anderem?", fragte sie. "Vielleicht nach Gott? ?Suchet, so werdet ihr finden?, steht schon in der Bibel."

Auch darüber hatte der Mann lange nachgedacht auf seinen Wanderungen durch die Stadt. "Alle Menschen suchen etwas", sagte er. "Die einen das Glück, die andern die Wahrheit, die dritten einen Sinn. Ich suche nur Geld."

Er ging weiter und fand auf dem Weg nach Hause noch ein golden glänzendes Fünf-Rappen-Stück.

 

[ Copyright © Emil Zopfi ]