Pfarrer Stähelis Geheimnis

 

1.

Es war ein dunkler Nachmittag im Juni des Jahres 1753 in London. Lord Cotton liess sich mit einer Kutsche von Pall Mall nach Hammersmith fahren. Die Schatten der Menschen in den Strassen trieben im dicken Nebel vorbei wie schwarze Fische in einer Erbsensuppe. Bei der französischen Kirche von Hammersmith bezahlte er den Kutscher. Dann überquerte er mit langen, langsamen Schritten den Kichhof und betrat den Friedhof.

Das Begräbnis ging seinem Ende entgegen. Ein junger Prediger hielt die Andacht französischer Sprache. Als er Lord Cotton erblickte, stockte er für einen Augenblick. Die Trauernden drehten ihre Köpfe und starrten den Lord stumm an.

Nach dem Schlussgebet eilte der Prediger um das frisch aufgeworfene Grab und begrüsste Lord Cotton untertänigst. Er war bekannt als Berater von König Georg II in religiösen Fragen. Der Prediger verbeugte sich und fragte: "Darf ich Ihnen Mrs Stäheli vorstellen, Milord. Die arme Witwe."

Cotton nickte flüchtig, drückte eine kalte Hand, blickte für einen Moment in ein stumpfes Gesicht hinter einem schwarzen Schleier und wünschte Beileid. Die Frau sagte kein Wort und blieb regungsslos stehen.

Lord Cotton wandte sich zum Prediger. "Ich bin beauftragt, im Namen seiner Majestät, des Königs, dieses Beileidsschreiben zu überreichen." Er zog aus einer Tasche seines Mantel ein schmales Kuvert mit eingeprägter goldener Krone und reichte es dem Prediger. Die Frau stand noch immer reglos und stumm.

"Es tut mir leid, Milord. Mrs Stäheli versteht kein Englisch", erklärte der Prediger mit gedämpfter Stimme.

"Vous parlez Francais?" wandte sich Lord Cotton and die Witwe. Aber der Prediger unterbrach ihn: "Mrs Stähelin spricht nur Deutsch. Sie und ihr verstorbener Gemahl, Pfarrer Stäheli, stammten aus der Schweiz. Aus dem deutschsprachigen Teil des Landes."

"Ich weiss, ich weiss", sagte Lord Cotton ungeduldig. "Sagen Sie der Dame, dass seine Majestät, König George II, habe Kenntnis genommen vom Gesuch ihres verstorbenen Gatten für den Bau einer Schweizer Kirche in London. Der König scheint dem interessanten Projekt nicht abgeneigt zu sein ? wie auch ich, selbstverständlich." Er zog aus seiner Manteltasche ein zweites Kuvert, dieses jedoch verschmutzt und in ungelenker Handschrift addressiert. "Es gibt da nur noch einen Punkt zu klären."

Eine anonyme Person habe dem Köngishof diesen Brief zugesandt, erklärte er, sehr informell addressiert "an den König von England". Er sei in so schlechtem Englisch abgefasst, dass niemand den ganzen Sinn des Schreibens erfassen könne. "Wir verstanden einzig, dass der anonyme Verfasser dem verstorbenen Pfarrer anlaste, er habe die Schweiz vor über 30 Jahren wegen einer illegalen Beziehung zu einer weiblichen Person verlassen. Ihr Name sei ..." Der Lord brachte den fremden Namen nur mit Mühe über die Lippen.

Der Prediger übersetzte. Als die Witwe den fremden Frauennamen in richtiger Aussprache vernahm, fuhr sie zusammen, als habe sie ein Peitschenhieb getroffen. Sie schüttelte ihren Kopf so heftig, dass der Lord sogleich überzeugt war, an den Anschuldigungen in dem Brief könnte etwas Wahres sein.

Der Prediger fragte, ob er die Witwe nun nach Hause begleiten dürfe, sie fühle sich nicht wohl.

Lord Cotton nickte und sie verschwand im Nebel wie ein schwarzer Engel, gefolgt vom leicht hinkenden Prediger.

2.

Eines Abends im Juli trafen Lord Cotton und seine Frau in Obstalden ein, einem kleinen Dorf, verloren irgendwo in den Schweizer Alpen. Der Abhang des Bergs, auf dem es lag, war so steil, dass sich die Lady Angst hatte, aus der Kutsche zu steigen. Sie fürchtete, auszurutschen und ins Tal zu stürzen, auf dessen Grund ein tiefer schwarzer See lag, umrahmt von senkrechten Felsklippen. Es regnete in Strömen.

König Georg II hatte weitere Nachforschungen angeordnet, bevor er über den Bau der Schweizer Kirche entscheiden wollte. Lord Cotton hatte herausgefunden, dass Pfarrer Johann Peter Stäheli und seine Frau Margareta Milt das Dorf Obstalden im Jahr 1720 unter mysteriösen Umständen verlassen hatten. Er hatte sich entschieden, der Sache vor Ort nachzugehen mit Hilfe seiner Frau, Tochter einer reichen deutschen Kaufmannsfamilie, die als Übersetzerin mitreiste. Auf dem Rückweg wollten sie ihren Verwandten in Duesseldorf am Rhein einen Besuch abstatten.

Doch obwohl die Lady deutscher Abstammung war, verstand sie kaum ein Wort des lokalen Dialekts, genannt "Glarnerdeutsch". Das einzige, was sie auf Anhieb verstand en habe, sei der Name der Schenke gewesen, in der sie abstiegen, pflegte der Lord später in seinem Club zu erzählen. "Und das nur, weil er in fetten Buchstaben auf die Fassade geschrieben war. Das Lokal hiess Hirschen", setzte er jeweils seinen Bericht fort. "Hirsch ist eine Art Rotwild. Doch dort oben ist mir wahrlich nie ein Hirsch unter die Augen gekommen. Der Berghang ist für selbst für das Wild viel zu steil. Den Kühen müssen die Bauern Fusseisen an die Hufe schnallen, damit sie im Sommer auf die Alpweiden klettern können." Und unter dem Gelächter seiner Clubgenossen fuhr er fort: "Ihr könnt euch die Sprachen nicht vorstellen, welche die Einheimischen sprechen. Eigentlich sprechen gar nicht. Sie singen! Wenn einer seinen Mund öffnet, dann klingt es, als habe er ein Alphorn verschluckt."

Kam es vor, dass sich ein Einheimischer auf ein Gespräch einliess, so fragten er nach Pfarrer Stäheli und der Frau mit dem unaussprechlichen Namen. Doch es war hoffnungslos. Selbst der Wirt, ein diensteifriger, fetter Mann, hob seine Augen zur Decke der raucherfüllten Gaststube, wiegte seinen Kopf und murmelte unverständliche Sätze, die klangen wie eine Mischung aus Chinesisch und Walisisch.

Die Nachforschungen kamen nicht vom Fleck. Und es regnete Tag und Nacht. Die Gaststube war vollgesteckt mit Bauern in grünen Hirtenhemden, die Stallduft verbreiteten, rauchten, tranken und die Zeit mit einem kryptischen Kartenspiel verbrachten. Sie knallten die Karten so hart auf die Tische, dass Lord Cotton fürchtete, die Schieferplatten würden unter ihren Fäusten zerspringen. Das Spielen, Rauchen, Trinken und Fäusteklopfen begann im frühen Nachmittag und dauerte an bis Mitternacht.

"Das Schlimmste jedoch war", erzählte der Lord seinen Freunden später mit einem Lächeln. "dass es nur drei Sorten Drinks gab dort oben. Apfelwein, Schnaps und Wasser. Wobei das letztere am besten schmeckte."

Die Lady war schockiert, weil ihr niemand den leisesten Respekt zollte. Eines Abends klagte sie ihrem Gemahl: "Selbst die Hausmagd sagt du zu mir."

"Sie sind eben Republikaner", warf der Lord mit Abscheu hin.

3.

Der Sonntag brachte strahlendes Wetter. Lord und Lady Cotton zogen ihre besten Kleider an und gingen zum Gottesdienst. Die Kirche war klein, weissgekalkt und mit einem alten schweren Turm bewehrt. Die Glocken klangen melodiös, die Andacht war kurz. Ein paar Frauen und Kinder sassen in den Holzbänken, die Männer steckten im Hirschen und spielten Karten.

Die Berge jenseits des Tals loderten wie goldene Flammen im Sonnenschein, der See spiegelte die weissen Wolken. Sie glitten über den Himmel wie schwere Segelschiffe auf ruhiger See. Der Pfarrer erwartete den Lord und die Lady bei der Pforte, stellte sich in perfektem Englisch vor und lud sie zum Mittagessen ins Pfarrhaus.

"Sie wissen, wer wir sind?" fragte der Lord überrascht.

"Selbstverständlich, Milord."

"Woher denn?"

"Hier weiss jeder alles", meinte der Pfarrer lächelnd. Er entschuldigte sich für das einfache Mahl, das seine Frau bereitet habe. Doch in Wirklichkeit bog sich die Tafel unter der Fülle von frisch gebackenem Brot, duftenden Käsesorten, geräuchertem Schinken, Wurst, kaltem Fisch, Früchten und Kuchen. Der Wein schmeckte gepflegt und rund. "Von der andern Seeseite. Es ist sehr sonnig dort drüben. Obwohl sie’s eigentlich nicht verdient haben."

"Warum?" fragte die Lady überrascht.

"Sie sind katholisch", erkärte der Pfarrer. "Doch der Priester ist ein guter Freund. Er hat seinen eigenen Weinberg. Wenn wir ein Glas zusammen trinken, sagt er: Gott hat euch mit Schatten und saurem Apfelmost gestraft, weil ihr zum reformierten Glauben übergetreten seid. Vielleicht konvertierst du eines Tages wieder, dann darfst du zu uns auf die Sonnenseite ziehen."

Es war gegen vier, als die Magd Kaffee und starkes Kirschwasser auftrug. Der Pfarrer erzählte, sein Vater habe als Oberst in vielen Ländern Europas gedient. Deshalb spreche er Französisch, Englisch und sogar etwas Russisch. "Mein Vater kämpfte für drei Könige und einen Kaiser und weil er ein grosser Sünder war, machte er seinen Sohn zum Pfarrer. Drum bin ich hier."

Sie rauchten Pfeifen, als er schliesslich zur Sache kam. Johann Peter Stäheli war 1708 im Alter von siebzehn Jahren als Pfarrer nach Obstalden gekommen. Eines Morgens im Jahr 1720 entdeckte der Totengräber den Leichnam eines Säuglings, der in einer Ecke des kleinen Friedhofs in drei Schindeln eingemacht vergraben worden war. Es verbreitete sich das Gerücht, die Mutter sei des Pfarrers Magd, und der Pfarrer selber der Vater. In der folgenden Nacht verschwanden Johann Peter Stähelin und seine Gattin aus dem Dorf.

Der Pfarrer schaute aus dem Fenster auf die Berge, die im letzten blauen Licht lagen. "Die Magd heiratete später einen groben Bauern, gebar einen Sohn. Eines Morgens fand man sie im See, ertrunken."

"Oh, mein Gott", seufzte die Lady.

Das Gesicht des Pfarrers bekam einen müden Ausdruck. "Es ist leider nichts Ungewöhnliches, dass wir Ertrunkene beerdigen müssen hier oben", sagte er mit trauriger Stimme. Dann füllte er sein Glas mit dem kristallklaren Kirschwasser und hob es gegen das Licht.

"Der Sohn der Magd verschwand später ebenfalls. Man erzählt sich, er sei Matrose geworden und habe in der Fremde sein Glück gemacht. Aber niemand weiss Genaues."

"Vorher sagten Sie doch, jeder wisse hier alles", warf der Lord ein.

Der Pfarrer schwieg. Die Sonne war untergegangen.

4.

Am nächsten Morgen verliessen Lord und Lady Cotton Obstalden und reisten mit der Kutschenpost über Basel und dem Rhein entlang nach Düsseldorf. Zurück in London schrieb er in einem Brief an König Georg II, dass er keine dunklen Geheimnisse im Leben Pfarrer Stähelins habe aufinden können. Deshalb empfehle er aufs wärmste, sein Gesuch zu befürworten und den Schweizer Einwanderern in London die Erlaubnis für eine eigene Kirche zu erteilen.

Es dauerte jedoch noch hundert Jahre, bis die Swiss Church in Londons Soho vollendet war. Heute ist sie eine ruhige und freundliche Oase inmitten der turbulenten Grossstadt. Sitzt man ihn ihren Bänken, so fühlt man sich plötzlich nicht mehr im lärmigen Zentrum, sondern in einer kleinen Kirche in einem Dorf, verloren am steilen Berghang, irgendwo in den Schweizer Alpen.

 

[ Copyright © Emil Zopfi ]