Ich klettere seit über fünfzig Jahren, heute vor allem im sportlichen Stil. Über Bergsteigen habe ich verschiedene Reportagen geschrieben, unter anderem für das "Magazin" und die NZZ, sowie mehrer Bücher. Der Text stamm aus der Sammlung «Sanduhren im Fels».
Im Bild klettere ich die Route "Ultima via" am Cucco in Finale
Ligure.
"Warum steigt ihr auf Berge?" Ludwig Hohl lässt in seiner Erzählung "Bergfahrt" den Kletterer Ull die Antwort finden. Nach einem Abstieg durch eine unbekannte Felswand, allein und in verzweifelter Lage, fällt Ull die Erklärung ein: "Um dem Gefängnis zu entrinnen". Und nun? fügt Hohl bei. Denn Ull ist verloren, er wird abstürzen, in den Bergschrund fallen, wird verschwinden für immer und die Antwort mit sich reissen in den Tod, so dass sich der Nachwelt die Frage immer von neuem stellt.
Warum stieg ich auf Berge? Mein Gefängnis war die Fabrik. In der
Kantine lag die "Schweizer Illustrierte" auf, und darin las ich
von der Stahlseilrettung von Claudio Corti aus der Eigernordwand
und dem Tod seines Begleiters Stefano Longhi. In den Alpen, so
lernte ich aus dem dramatischen Geschehen, warteten gefährliche
Abenteuer. Ich war sechzehn, Lehrling, und träumte von einem Leben
als Trapper und Holzfäller in Kanada. Doch Kanada war weit weg,
die Lehrzeit lang, die Berge dagegen mit dem Velo erreichbar.
Das Bockmattli im Wäggital war zwar nicht der Eiger, aber seine
Nordwand immerhin vierhundert Meter hoch, senkrecht, eine Herausforderung.
Da tauchten Ziele auf am Horizont, die kein Lehrmeister oder Berufsschullehrer
diktierte. Klettern erschien als grosse Befreiung.
Nicht nur mir. Einst waren die Alpen unbekanntes, unberührtes
Land, das Jäger, Hirten und Soldaten aus purer Notwendigkeit betraten.
Ihren Spuren folgten Naturforscher, wie etwa der spätere Zürcher
Regierungsrat Johannes Hegetschweiler. Er verzichtete im Jahr
1822 auf die Erstbesteigung des Tödi zugunsten von wissenschaftlichen
Experimenten. Denn Wissen und Erkenntnis war das Ziel, nicht nur
der Gipfel. Der aufgeklärte Mensch wollte dem Gefängnis der Unwissenheit
entrinnen, wollte die Welt erklären, den Überblick gewinnen und
die Zusammenhänge erkennen.
Die Erde war im letzten Jahrhundert schon etwas eng geworden,
Inseln und Kontinente gab es keine mehr zu entdecken. Also fiel
der Blick auf die steilen Wände und Felsnadeln. Der Gründer des
Schweizer Alpenclubs, Dr. Rudolf Theodor Simler, erstieg 1861
in der Pose eines Feldherrn den Piz Rusein am Tödi, zum ersten
Mal, wie er meinte, und verteilte grosszügig Namen an Pässe, Grate
und Gipfel.
So folgten den Entdeckern die Eroberer, oftmals Englische Lords,
die ihre Namen in den Geschichtsbüchern und in der Geografie verewigt
sehen wollten. "Das Matterhorn war ein hartnäckiger Feind, ...
und als es endlich mit einer Leichtigkeit, die niemand für möglich
gehalten hätte, besiegt wurde, da nahm es als heimtückischer Gegner,
der überwunden, aber nicht zermalmt ist, eine fürchterliche Rache",
formulierte Edward Whymper 1865 nach der Besteigung des "Horu",
bei der drei Begleiter den Tod fanden. Die Eroberung der Alpen
verlief durchaus parallel zur Eroberung der Kolonien.
Siebzig Jahre später gingen den Feldzügen der deutschen Wehrmacht
die Expeditionen zu den grossen Nordwänden der Alpen und zum "deutschen
Schicksalsberg" Nanga Parbat im Himalaya voraus. Anderl Heckmayr,
Erstbesteiger der Eigernordwand, durfte mit Adolf Hitler speisen
und neben dem Führer auf den Balkon treten. Das Rennen um die
grossen Nordwände der Alpen war ein national gefärber Wettkampf
zwischen deutschen, österreichischen, italienischen und französischen
Seilschaften. Deutsche Gebirgsjäger bestiegen im zweiten Weltkrieg
den Elbrus im Kaukasus, den höchsten Berg Europas. Eine symbolträchtige
Handlung.
Noch heute ist die Bersteigersprache vom militärischen Jargon
der Eroberer durchsetzt. "Gipfelstürmer Adolf Ogi bezwingt höchsten
Berg der Schweiz" titelte kürzlich die "Schweizer Illustrierte".
Kurz ist das Leben, vergänglich der Ruhm, doch in den Bergen ist
selbst der Schnee "ewig". Der Drang des Menschen, seiner Existenz
einen Sinn zu geben, indem er "ewige" Spuren hinterlässt, ist
ein Grund, auf Berge zu steigen, möglichst als Erster auf neuer
Route. Wie Gefangene, die ihre Namen in die Mauern ritzen, um
nicht in Vergessenheit zu geraten, so benannten die Alpinisten
eine Route oft nach ihrem Erstbesteiger. Der Bonattipfeiler an
den Drus bei Chamonix zum Beispiel, erinnert an einen desperaten
Alleingang von Walter Bonatti. Etwas benennen ist das Privileg
der Entdecker und Eroberer, und manche behaupten sogar, Klettern
sei reiner Männlichkeitswahn, der Berg stehe dabei für das zu
unterwerfende weibliche Geschlecht.
Ich habe keine Erstbesteigung vollbracht. Doch wenn ich im Wäggital
wandere oder klettere, dann überrollt mich die Erinnerung: Die
Nordwand des Bockmattli, sieben Mal durchstiegen im Verlauf von
dreissig Jahren, auf mehreren Routen, mit verschiedenen Freunden.
Die Berge sind für mich ein Album voller Geschichten, Bilder und
Gefühle. Ich stosse auf Spuren meiner Existenz, die nur für mich
erkennbar und spürbar sind. Der Berg ist ein Teil meiner Identität
geworden, Klettern Selbsterfahrung und Grenzerfahrung zugleich.
Ich habe diese Felswand durchstiegen, aller Angst zum Trotz, habe
erfahren, dass ich auch in auswegsloser Situation noch handeln
kann. Weisst du noch, als wir im Gewittersturm den Gipfel erreichten?
Wir sind dem Gefängnis entronnen, der Gipfel war die Befreiung,
unser Leben war uns wie neu geschenkt. Was immer uns trieb: Minderwertigkeitskomplex,
Todessehnsucht, Realitätsflucht. Die Wand war die Therapie.
Einmal waren alle Berge der Welt bestiegen worden, und die Technik
der Sechziger- und Siebzigerjahre hatte jede Wand im Prinzip bezwingbar
gemacht. Am Eiger, an der Grossen Zinne in den Dolomiten und anderswo
zogen Kletterer mit dem Lineal eine Linie vom Wandfuss zum Gipfel
und arbeiteten sich mit Ausdauer und Technik auf der Superdiretissima
hinauf. Achttausender konnte man inzwischen im Reisebüro buchen.
Alles war machbar, der Mensch war auf dem Mond gelandet, der Alpinismus
in der Sackgasse.
Kreativität war gefragt, und man fand sie an Orten, wo sie keiner
vermutet hätte: In den walisisischen Cliffs, im Pariser Fontainebleau,
im sächsischen Elbsandstein, in den Shawangunks bei bei New York
hatten Kletterer, in Ermangelung richtiger Berge, das Klettern
an sich zum Thema gemacht, zum Sport mit harten Leistungkriterien
und hoher Disziplin. Haken einschlagen ja, aber nur zur Sicherung.
Zur Fortbewegung durfte nur der natürliche Griff dienen.
Diesen Felsakrobaten ging es nicht um Eroberung, Unterwerfung,
Inbesitznahme, sondern um die eigene Identität: Schaffe ich diese
Route, wie schaffe ich sie, wie schnell und mit welchen Mitteln.
Während sich der Eroberer die Erde untertan machen will, unterwirft
sich der Sportler den Gesetzen des Geländes und den Kriterien
der Konkurrenz. Frühe Felskünstler, etwa ein Christian Klucker
aus Fex, kletterten notgedrungen in sportlicher Manier. Um schwierige
Stellen zu überwinden, benutzten sie nichts anderes als Hände
und Füsse, und notfalls zogen sie, wie Klucker 1892 an der Badile-Norkante
im Bergell, die Nagelschuhe aus, um besser zu haften auf dem Stein.
Jede Entwicklung in Richtung Sport löste unter den Alpinisten
Ablehnung und Protest hervor. "Ich täte es ungemein bedauern,
wenn das ideale Bersteigen durch den reinen Sport verdrängt würde",
schrieb Christian Klucker in seinen Erinnerungen. Felshaken wurden
geächtet, Bohrhaken schon gar, Magnesia, das die Haftreibung der
Finger erhöht, als umweltschädigend verboten, die modernen Kletterschuhe
mit weichen Gummisohlen, Kluckers verschwitzten Socken nachempfunden,
verlacht.
Doch das sportliche Klettern war die einzige Herausforderung,
die die Eroberer der Alpen den folgenden Generation belassen hatten.
Die Jungen waren stets besser, schneller, stärker als die Alten
und entdeckten Neuland, wo schon alles abgeklettert und abgegriffen
schien. Allmählich waren die Gipfel nicht mehr das höchste der
Gefühle, denn dort oben sassen schon allzuviele, schluckten ihren
Weisswein und schauten mit verklärten Augen in die Weite. Seit
Kurt Albert 1974 im Frankenjura einen roten Punkt an den Einstieg
jeder Route malte, die er ohne künstlichen Haltepunkt klettern
konnte, ist "Rotpunkt klettern" das Ziel. Die Namen der Routen
beanspruchen nicht mehr Ewigkeit, sondern entspringen der momentanen
Stimmung ihrer Schöpfer: Supertramp, Hannibals Alptraum, Septumania.
Das neue, sportliche Klettern ist hart, verlangt systematisches
Training, wissenschaftliche Ernährung und hohen Zeitaufwand. Konsequent
führt der Weg in die Trainingshalle, zum Kunstberg, zum Griff
aus Plastik, zum Kletterweltcup, zum Profiklettern mit Sponsoring
und Medienpräsenz. Klettern wird eine olympische Disziplin werden
wie Kugelstossen, Weitsprung, Dressurreiten. Und nun?
Wir Bergsteiger und Sportkletterer können es ist ein Gemeinplatz
der Gesellschaft, in der wir leben, nicht entrinnen. Die Gefängnismauern
sind unendlich hoch. Ludwig Hohl, zwischen den himmelhohen Glarner
Felswänden aufgewachsen, hat es erkannt. Hinter jedem Gipfel türmt
sich ein noch höherer, auf die schwierigste Kletterstelle folgt
eine noch wahnsinnigere, auf den zehnten Grad der elfte. Berg
und Tal, Extremismus und Normalität bedingen sich gegenseitig.
Ohne Zuschauer keine Kletterer in der Eiger- oder an der Kunstwand.
Oder anders gesagt: Die Wand ist der Spiegel des Lebens.