Auf höchster Ebene

Er trat auf die Terrasse Gipfelstation auf der Aiguille du Midi, 3842 Meter über Meer, und blinzelte in die Gletschersonne. Ich erkannte ihn sogleich: Muhammad Ali, ganz in Weiss und begleitet von zwei schwarzen Damen in weissen Pelzmänteln, die Lippen in sattem Rot und ebenfalls rot ihre Stöckelschuhe. Ich kauerte an der gegenüberliegenden Felszacke auf einem Absatz, der bloss schuhbreit und ziemlich ausgesetzt war, sicherte den Freund, mit dem ich die Südwand erklettert hatte, fünf oder sechs Stunden im senkrechten Granit. Von der Seilbahnstation trennten uns noch eine Abseilstelle über eine Kante und ein ziemlich ruppiger Schneegrat.

Muhammad Ali und seine Begleiterinnen traten ans Geländer und schauten herüber, wie wir Seile fädelten, Karabiner einklinkten, Haken ordneten, Trittschlingen entwirrten. Es war die Zeit, als ich noch ein grosser Bergsteiger war und Muhammed ein grosser Boxer. Was sage ich, er war der Grösste. Einer, dem die ganze Welt zuschaute, wenn er aus den Seilen federte, mit roten Handschuhen an den Fäusten und auf den Gegner einhämmerte. Doch nun schaute er mir zu, wie ich auf den Schneegrat abseilte und mit dem Pickel Stufen ins Eis unter der trügerischen Schneeschicht hackte. Wahrscheinlich sah das ziemlich gefährlich aus, harmlos war es nicht, und ich war froh, als ich das Geländer packen und mich mit einem Klimmzug auf die Terrasse hieven konnte. Die Zuschauer, inzwischen so dicht gedrängt wie an einem Boxmatch, klatschten Beifall und machten Platz. Und Muhammad Ali – oder Cassius Clay, wie er damals noch hiess – streichelte mir anerkennend den Oberarm.

Nun lieben wir Bergsteiger es ja eigentlich nicht besonders, wenn uns Seilbahntouristen aus sicherem Stand und in Stöckelschuhen zuschauen, wie wir uns in Gefahr begeben und uns abmühen. Doch an jenem sonnigen Tag machte ich eine Ausnahme, liess mich von den zwei kräftigen Damen unter beiden Armen fassen, stand zwischen ihnen wie ein Fotobär, mit nassen Hosen und zerkratzten Händen, den Kletterhelm schief auf dem Kopf und den Pickel in der Hand, stand umhüllt vom Parfümduft der exotischen Schönen, und liess mich fotografieren. Blitzlicht wetterte. Mein Freund hockte noch immer drüben auf dem Felsabsatz und konnte nicht klettern, weil ich im Trubel keine Zeit fand, ihn zu sichern. Als auch er endlich auf dem Trockenen stand, war der Spuk vorbei.

"Wer ist denn das gewesen?"

"Cassius Clay", sagte ich.

"Du bist wohl verrückt", sagte er.

Und ehrlich gesagt. Ich bin heute nicht mehr ganz sicher, ob er es wirklich gewesen ist. Doch ansonsten ist jedes Wort meiner Geschichte wahr. Der Augenblick ist mir unvergesslich geblieben, wie ich da zwischen den beiden stattlichen schwarzen Damen auf der Terrasse der Aiguille du Midi stand, 3842 Meter über Meer, und ihr schwergewichtiger Begleiter Erinnerungsbilder knipste und mir dann nochmals bewundern auf die Schultern klopfte. Und warum soll er nicht dort oben gewesen sein? Hillary Clinton liess sich letzthin ja auch auf den Säntis gondeln und fand es "great". Jedenfalls gefällt mir die Vorstellung, wie der alte und tatterige Muhammad Ali gelegentlich durch ein Fotoalbum blättert, auf den abgekämpften Kletterbären zwischen seinen zwei Schönen zeigt, und nuschelt: "Was a tough guy, this one, wasn’t he?"

 

[ Copyright © Emil Zopfi ]