Christa und Emil Zopfi

Sehnsucht nach den grünen Höhen

Literarische Wanderungen zwischen Pfannenstiel, Churfirsten und Tödi. Rotpunkt Verlag, Zürich 2014

Einführung

Die Sehnsucht der Dichter

»Wer über die Alpen gepilgert ist und für Tage fast nur Felsen getroffen hat, diese rauhen und nackten Felsen, wie anders bleibt er stehen vor den ersten Gärten des Südens, und wie anders leuchten ihm die Astern, die ihre dunkelroten Sterne heben aus staubweissen Büschen! Dann ist es, als habe man noch nie eine Blume erlebt, und man wird so dankbar für alles, was lebt und blüht und grünt und reift, auch für sein eigenes Dasein in solcher Welt. Aber man muss gepilgert sein, wie gesagt, man muss drei Tage geschwitzt und drei Nächte gefroren haben, weil es ja immer nur die Grösse der Sehnsucht ist, die den Dingen überhaupt einen Wert gibt.«
Das schrieb Max Frisch in einem Feuilletonbeitrag mit dem Titel Vom Wandern in der Neuen Zürcher Zeitung im Oktober 1936. Allein hatte er von Linthal im Glarnerland aus die Alpen überquert bis nach Locarno. Er befand sich an einer Lebenswende, hatte sein Germanistikstudium abgebrochen, einen ersten Roman veröffentlicht, weite Reisen, Wanderungen und Bergtouren unternommen, Reportagen und Feuilletonbeiträge geschrieben. Doch nun entschloss er sich, ein Architekturstudium aufzunehmen, einen »Brotberuf« zu ergreifen. Wir stellen uns vor, wie er sich auf jener langen und einsamen Fussreise nicht nur den Weg über die Alpen, sondern auch in seine Zukunft sucht. Wandern ist nicht immer nur Fussarbeit, es sind auch die Gedanken, die wandern und uns neue und unerwartete Perspektiven eröffnen.
Die »blaue Blume der Sehnsucht« war eine Metapher der Romantik für den Drang, aufzubrechen, zu wandern mit unbekanntem Ziel, getrieben von einer unbestimmten Sehnsucht nach der Ferne. Einige der Autorinnen und Autoren, deren Spuren wir hier verfolgen, waren ausdauernde Wanderer oder sogar wilde Bergsteiger, manche beschauliche Spaziergänger; für andere waren Fussreisen eine Notwendigkeit oder sie waren als Reiseschriftsteller unterwegs. Ob durchs Gebirge oder übers Hügelland, durch Schluchten, Wälder oder Ebenen: Die durchwanderten Landschaften sind für alle zu literarischen Szenerien geworden, in denen sich ihre Geschichten entwickeln oder auf die sie unterwegs gestossen sind. Ihre Wanderungen haben sie verändert, mit neuer Schaffenskraft, Erfahrungen und Ideen sind sie zurückgekehrt. Mit neuen Augen für die Welt und das »eigene Dasein in solcher Welt«, wie Frisch schreibt. Denn nicht die Höhe des Gipfels oder das Erreichen eines Leistungszieles sei das Entscheidende, sondern »die Grösse der Sehnsucht«.

Welttheater am Rand des Zürichsees
Wenn wir über den Höhenzug des Pfannenstiels wandern wie Albin Zollinger und die blauen Berge in der Ferne jenseits des Zürichsees vor uns liegen, dann packt auch uns eine eigenartige Sehnsucht, und wir lassen Sätze aus seinem Roman Pfannenstiel in uns klingen. »Die Alpen waren als eine schaumige Brandung an den Himmel hinaufgewachsen, ihre Riesen standen im neuen Schnee mit geisterhaft fernen Klippen, mit Schlüften von Zwielicht, der Hermelin langer Hänge zerfloss in dem kräusligen Waldrost, dem Teppich der wärmeren Tiefen.«
Von der Hochwacht aus, wo Zollinger gern einkehrte, überblicken wir einen grossen Teil der Literaturlandschaft, die wir erwandert und »erlesen« haben - im Doppelsinn des Wortes: die Hügel des Zürcher Oberlandes, die Linthebene, hinter der wir den Walensee erahnen, das Glarnerland mit seinen Bergen und weit im Osten die Gipfel des St. Galler Oberlandes. Wir stellen uns vor, auf dem Aussichtsturm der Hochwacht sei nicht ein Panorama der Berge, sondern eines der Literatur montiert, mit den Namen von Autorinnen und Autoren, ihren Büchern und Geschichten. Es würden sich ganz unterschiedliche Gipfel und Täler zeigen als in der Geografie. Seltsame Verwerfungen, für die wir da und dort historische Erklärungen finden: alte Handels- und Pilgerwege, wohlhabende und arme Gebiete, Industrialisierung, Auswanderung.
Rapperwil, die alte Stadt am Pilgerweg und kulturelles Zentrum am Oberen Zürichsee, hat mit Gerold Späth einen der wenigen, dafür umso produktiveren Autoren hervorgebracht, der mit Blick von Innen und Aussen seine Geburtsstadt als literarisches Welttheater gestaltet hat. Den Blick vom Burghügel über der Stadt schildert er so: »Dort von hoch über der Stadt ein dermassen klarer Blick in die sichtigblaue Weite hinaus, du siehst die halbe Welt: südlich vom See die Berge mit allen Wänden Schründen Zacken zum Greifen nah und vor mir der See tintengischtig aufgewühlt vom Föhn verblasen.« Der Damm, über den der alte Pilgerweg führte, grenzt den Zürichsee vom Obersee ab, an dessen östlichem Ende wir ein weiteres Welttheater im Kleinen finden: die Linthebene, einst Sumpfland, heute landwirtschaftlich genutzt und zum Teil unter Naturschutz. Ölbohrungen in den Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts waren erfolglos zum Glück für die Natur und die Literatur. Aus jener Zeit erzählt Kurt Guggenheim in seinem Erstling Riedland, in dem es auch um den Konflikt zwischen Natur und Technik geht. Er schreibt: »Ich bin kein selig unbewusster Naturmensch, sondern ein mit allen Fasern und Phasen der Bewusstheit sich nach ihr Sehnender. Ein Bewunderer, ein Anbeter, ein Ehrfürchtiger, aber kein Wissender und kein sie Beherrschender.«

Mürtschenstock: Kletterberg für kühne Dichter und Dichterinnen
Bei seinen Wanderungen durch die Ebene fiel Guggenheim auch immer wieder das im Osten dominierende Felsmassiv des Mürtschenstocks ins Auge. In der Form seiner Gipfel sah er die »doppelte Gebottafel, die Moses den Juden vom Sinai herabgebracht hatte«. Die Landschaft wird in den Augen des Dichters zur Metapher - ein »Panorama des Menschenlandes« im Zwiespalt zwischen Natur und Technik.
Die bizarre Gestalt des Mürtschenstocks erinnert uns auch an einen Satz aus der Erzählung Bergfahrt von Ludwig Hohl. »Und das ganze langgezogene Gebilde dieses Gipfelaufbaus vor den hellen Himmeln hätte vielleicht auch den Eindruck erwecken können von einem sehr grossen Schiff, das nicht in ein Erdenmeer nur, das in die Ewigkeit hineinführe.« Für den im im Glarnerland aufgewachsenen Dichter war es in seiner Jugend ein wichtiger Berg, an dem er immer wieder wilde Klettertouren unternahm. Nach einer Tour notierte er in sein Bergtourenheft: »Diesen Tag zu beschreiben soll der Historiker aufhören u. der Dichter beginnen.« Auf seinen einsamen Wegen war in dem jungen Suchenden der Entschluss gereift, sein zukünftiges Leben der Dichtung und Philosophie zu widmen. Wie er in seinen Notizen schreibt: »Auf dem Weg finden wir Edelsteine, - oder sehen wir den immer wahreren Gipfel: unser eigentliches Ziel ist der Weg.«
Dem passionierten Wanderer und Bergsteiger Franz Hohler war der Gipfel wichtig, wie er in seinem Buch 52 Wanderungen schreibt. Er wünschte nach einer versuchten Besteigung des Mürtschenstocks vom Begleiter, »sich nächstes Jahr um dieselbe Zeit wieder zu treffen, um sich dann im silbrig glänzenden Gipfelbuch einzutragen«. Eine Bergsteigerin war auch Nelly Zwicky, Pfarrerstochter aus Obstalden am Fuss des Mürtschenstocks. Sie lebte in Mollis, doch »nach Jahrzehnten, zieht es mich immer wieder auf den heimatlichen Berg«, schreibt sie in ihren Erinnerungen vom Kerenzerberg, die leider nur als Zeitschriftenserie vorliegen.

Zürcher Oberländer Dichterkranz
Sehnsucht ergriff auch den Knaben Jakob Stutz, wenn er beim Hüten von Kühen im Zürcher Oberland zu den fernen Bergen schaute. In seiner Autobiografie Sieben mal sieben Jahre aus meinem Leben erinnert er sich: »Und wenn ich so in die schöne, schöne Ferne hinausschaute, der Pfäffikersee und der Greifensee wie Silber glänzten, die Häuser schimmerten und die Berge grünten, dann wandelte mich rege Lust zum Reisen an; ich beneidete die Zugvögel, welche ich oft in langen Scharen nach jenen südlichen Gegenden hinfliegen sah, um nicht auch mit ihnen fortziehen zu können, und zwar nach meinem lieben schönen Mailand hin.« Dahin gelangte er allerdings nie in seinem Leben, eine andere Sehnsucht zog ihn nach den »grünen Höhen von Sternenberg«. In seiner Dichterklause versammelte er Jünglinge aus der Gegend zu einer Dichterwerkstatt, die aus heutiger Sicht fast visionär anmutet in ihrem pädagogischen Anspruch. Zu diesem »Kranz von Jünglingen« gehörte auch der Zürcher Oberländer Dichter Jakob Senn - seine Sehnsucht galt allerdings nicht den fernen Bergen, sondern der Literatur. Zur Vollendung seines autobiografischen Werks Hans Grünauer schreibt er: »Das Buch, der Traum meines Lebens, ist ein Sommernachtstraum geworden, den ich zwischen Maiblumen und Eisblumen geträumt habe.« Die Werke von Senn und Stutz sind auch eindrückliche Schilderung der Lebenswelt in der ländlichen Schweiz im politischen Umbruch und industriellen Aufbruch des 19. Jahrhunderts.
Als eine Art Fortsetzung ihrer Darstellungen lesen wir Menschen am Schnebelhorn von Otto Schaufelberger, der in den Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts Lehrer in der abgelegenen Siedlung Strahlegg im Tössbergland war - ein autobiografisch verdichtetes Werk, das auch von seiner Sehnsucht nach einer heimlichen Liebe erzählt. »Weiss ich denn, ob sie jemals an mich denkt? Es ist so weit von Florenz bis da herauf!« Er begegnete auch dem Thurgauer Dichter Alfred Huggenberger, für den das Tössbergland ein bevorzugtes Wandergebiet war. Dem Schnebelhorn widmete Huggenberger den kleinen Roman Der wunderliche Berg Höchst.

Reisende und Utopisten am Walensee

Eine ganz anders geartete Sehnsucht bewegte die Lebensreformer um die Wende zum Zwanzigsten Jahrhundert, zu denen sich auch zeitweilig Hermann Hesse gesellte. Die Sehnsucht nach einer spirituellen Gegenwelt zur aufkommenden Industriekultur mit ihren verrauchten Städten und ihren ungesunden Lebensverhältnissen liess sie nach neuen Lebensformen suchen. Geführt von Josua Klein wollten einige von ihnen in Amden auf der Sonnenterrasse über dem Walensee gar ein »Gottesreich auf Erden« schaffen, darunter auch der deutsche Schriftsteller Wilhelm Spohr. Von dem utopischen Projekt, das nach kurzer Zeit scheiterte, erzählt Roman Kurzmeyer in seinem Buch Viereck und Kosmos.
Rund um den Walensee, über dessen Wasserweg eine historische Handels- und Reiseroute führte, haben viele Künstler, Dichter und Musiker ihre Spuren hinterlassen. Der Bildhauer und Goldschmied Benvenuto Cellini berichtet von einer abenteuerlichen Reise durch die Gegend in seiner Autobiografie, die Johann Wolfgang Goethe ins Deutsche übertragen hat unter dem Titel Leben des Benvenuto Cellini, florentinischen Goldschmieds und Bildhauer. Zu den Durchreisenden gehörte auch Franz Liszt, der während eines Aufenthaltes in Weesen sein Klavierstück »Au Lac de Walenstadt« komponierte. Der am See aufgewachsene Richard Ammann erzählt in »Hirschis« langer Weg zum Licht von dem musikalischen Ereignis der Erstaufführung im Hotel Schwert in Weesen. Minutiös schildert der Reiseschriftsteller Johann Gottfried Ebel, Autor der ersten Reisehandbücher der Schweiz, in Schilderung der Gebirgsvölker der Schweiz eine Schifffahrt von Walenstadt nach Weesen am Ausgang des 18. Jahrhunderts. In jenen Jahre litt die Bevölkerung der Gegend zunehmend unter Versumpfung, Hochwassern und Krankheiten. Hauptfigur im historischen Roman Der Weg der Sühne von Rudolf Schnetzer ist der »Retter aus der Wassernot« Hans Conrad Escher von der Linth, der das Linthwerk vorantrieb - eine Utopie, die für einmal Wirklichkeit geworden ist und die Sehnsucht der Menschen nach einem besseren Leben erfüllte. Als spannende Hommage an die Gegend kann man auch den Krimi Mord am Walensee von Werner Bucher alias Jon Durschei lesen.

Liebe, Tod und Tourismus im Glarnerland
Die Magd Anna Göldi, die im Juni 1782 in Glarus nach einem Hexenprozess hingerichet wurde, trug eine unerfüllte Sehnsucht mit sich: ihre Liebe zum Sohn ihrer Herrschaft in Mollis, von dem sie ein Kind hatte, das sie weggeben musste. »Ein Geheimnis, das man lange mit sich herumträgt, sinkt immer tiefer in einen hinein. Nähme man das Geheimnis weg, würde man ihr Innerstes, von den Wurzeln des Geheimnisses, ihren feinsten Verästelungen durchsetzt, zerstören.« So fühlt sich Eveline Hasler in ihrem Roman Anna Göldin in die Frau ein, die ein Opfer persönlicher und politischer Intrigen wurde. Sie sei »an der Eifersucht einer Frau, an der Macht einer Sippe, am Aberglauben des verhetzten Volkes zugrunde gegangen«, schreibt Kaspar Freuler, Autor des Romans Anna Göldi, der ein eigentliches Gesellschaftsbild des Glarnerlandes am Ausgang des 18. Jahrhunderts darstellt. Der letzte Hexenprozess Europas in Glarus ist ein überaus produktives literarisches Motiv. Mit neuen Recherchen und seinem Buch Der Justizmord an Anna Göldi hat Walter Hauser die Diskussionen um den Justizmord befeuert und die Rehabilitation der Anna erreicht, die inzwischen längst zur Ikone geworden ist.
Heimliche Liebe führte den österreichischen Dichter Karl Kraus wiederholt ins Glarner Hinterland. Im Hotel Tödi im Tierfehd traf er seine Geliebte Sidonie Nádherny von Borutin, wobei sie sich als Geschwister ausgaben. Tierfehd nannte er ein wunderbares Gedicht, das er später in Landschaft umbenannte. Im Tierfehd vollendte er sein Drama Die letzten Tage der Menschheit.
Vom Tod umweht ist auch der höchtste Glarner Berg, der Tödi, obwohl sein Name mit Tod nichts zu tun hat. Mit erfrorenen Händen entkam Hans Morgenthaler knapp dem Erfrierungstod, wie er in seinem Roman In der Stadt erzählt. Der Bergtod seines Vaters am Tödi hat Leben und Werk von Meinrad Inglin entscheidend geprägt. Wie er als Jugendlicher dieses tragische Ereignis erlebte, erzählt er im Roman Werner Amberg.
Warum der Kanton Glarus ein literarisch besonders fruchtbarer Boden ist, können wir nur vermuten. Schon früh gab es hier durch Solddienste und später durch Industrie und Handel eine wohlhabende Bürgerschicht, Glarus gehörte zu den acht alten Orten der Eidgenossenschaft und kam zu Reichtum auch durch Landvogteien in Untertanengebieten. Aus- und Einwanderung prägten die bewegte Geschichte des Tals und veränderten die Gesellschaft.
Schon im vorletzten Jahrhundert führte der Glarner Dichter und Druckereibesitzer Jakob Vogel in Glarus einen literarischen Salon, das Haus des »Vogels von Glarus« wurde zeitweilig zum »Sammelplatz fast aller Literaten und Dichter der Schweiz«, wie er schreibt.
Aus der bewegten Geschichte des Kantons schöpfen die historischen Romane von Eveline Hasler und Kaspar Freuler, aber auch Die Fabrikglocke von Emil Zopfi und Eis von Perikles Monioudis. Werner Wiedenmeier mit Tobias Liebezeit Doppelspuren und Daniel Mezger mit Land spielen sind mit literarischen Werken hervorgetreten, die vom Glarnerland, seiner Gesellschaft und Landschaft bestimmt sind. Tim Krohn hat sich vom Reichtum der Sagenwelt zu seinen Bestsellern Quatemberkinder und Vrenelis Gärtli anregen lassen. Die Genfer Schriftstellerin Yvette Z'Graggen, Tochter eines ausgewanderten Glarners, forschte für ihr Werk Heimkehr ins Vergessene im Tal nach ihren Wurzeln.
Der frühe Alpen- und Bädertourismus hat die literarische Landschaft bereichert. Die Alp Richisau im Klöntal mit ihrem lauschigen Ahornhain wurde im 19. Jahrhundert zum eigentlichen Kultort für Künstler und Dichter, unter andern Carl Spitteler und Conrad Ferdinand Meyer. Hier verbrachten der Geologe Albert Heim und seine Frau, die erste Schweizer Ärztin Marie Heim-Vögtlin, immer wieder Urlaubswochen, wie in verschiedenen Biografien des prominenten Paars nachzulesen ist.

Sarganserländer Sagenwelt
Auch den Kurort Bad Ragaz am Ausgang der Taminaschlucht im Sarganserland suchten immer wieder Kulturschaffende zur Erholung und zur Kur auf. Johanna Spyri fand hier die Anregung zu den Heidi-Romanen, Rainer Maria Rilke liess sich auf dem Friedhof zu Gedichten inspirieren, Theodor Fontanes Kuraufenthalt hat Eingang in seinen Roman Der Stechlin gefunden. Der dänische Schriftsteller und Märchenerzähler Hans Christian Andersen zeigte sich von der Taminaschlucht beeindruckt: »Im Märchen lesen wir, dass Felsen sich öffnen und einen Durchgang bieten. Hier geschieht dies aber in Wirklichkeit: Die Felsen sind auseinandergerissen, sind stehengeblieben und formen ein Bett für den heranbrausenden Fluss, dessen vielfältige Buchten dem neuangelegten Weg folgen.«
Die Voralpen- und Berggebiete, die wir durchwandert haben, sind alle reich an Sagen. Wir sind ihnen auf Wanderungen im Calfeisen- und Weisstannental gefolgt. In diesen engen Bergtälern führten Walser ein abgeschiedenes und karges Leben, bevor ihnen das Ende der Warmzeit im frühen Mittelalter die Grundlagen ihrer Existenz raubte. Am Schicksal der letzten Walser nehmen wir durch Fritz Lendis Erzählung Der weisse Schlitten teil - ihre Kultur und Geschichte ist in den Tälern in Museen und im Walserdorf St. Martin noch immer präsent. Viele mündliche Überlieferungen und Sagen verdanken wir den Sammlern Alois Senti und Jakob Kuoni. Die Sage Der Hexentanz auf dem Gafarrabüel, die von der Sehnsucht eines Sölnders nach der Heimat handelt, hat der Melser Sagensammler Johannes Natsch aufgeschrieben. Im Abstieg vom Heidelpass über Alpweiden und durch einen Felskessel mit tosenden Wasserfällen, fühlen wir uns in eine mythische, von Sagen durchwobene Landschaft versetzt. Seltsame Zeichen, auf Felsen gekritzelt, ein Schmetterling, der vor uns dahingaukelt, als sei er ein verzaubertes Wesen, das uns eine Botschaft übermitteln will. Auf dem Grat jenseits des Tals sehen wir die Lichtung des Gaffarabüels und stellen uns vor, wie dort Hexen aus allen Ländern, Talbewohner und Nonnen vom Damenstift Schänis wilde Feste feierten und sie der Teufel zur Strafe in Füchse, Pferde oder Hummeln verwandelte.

Weiterwandern
Auch uns hat das Wandern auf den Spuren von Autorinnen und Autoren mit ihren Geschichten, Erzählungen und Schicksalen im Kopf verwandelt. So wie Max Frisch nach seiner Alpenwanderung nehmen wir die Berge, Täler, Felsen, Bäche und Alpen, die Wälder und grünen Hügel mit geschärften Sinnen wahr. Wege, die wir schon kannten, haben uns neue Erlebnisse beschert, andere wären wir ohne die Anregung durch Literatur nie gegangen. Zu Wanderungen, die wir gern unternommen hätten, haben wir keinen literarischen Zugang gefunden - wir werden sie trotzdem einmal unter die Füsse nehmen. Denn wenn wir wandern, machen wir selber Geschichten. Vor allem während eines mühsamen Aufstiegs erleichtert uns das Erzählen das Steigen, wir erfinden Fantasiegeschichten, Sagen oder Varianten literarischer Vorlagen. Hin und her spinnen wir den Faden und irgendwann verliert er sich. Wandern kann süchtig machen - die Sehnsucht ist unstillbar.

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