Emil Zopfi, NZZ Wochenende

Spuren im schwarzen Schiefer

Hitze lagert im engen Tal des Sernft, Gewitterwolken stehen über dem Glärnisch im Westen. Rino Bombardieri parkt seinen Wagen im Schatten des Waldes südlich von Engi-Hinterdorf, greift nach dem Stock und beginnt den steilen Weg hochzusteigen, den er vor über vierzig Jahren täglich gegangen ist, als Arbeiter im Landesplattenberg, dem Schieferbergwerk. Schwer geht sein Atem, vor kurzem hat er vom Arzt erfahren, dass seine Lunge voll Staub ist, von damals. Doch er hat Glück gehabt. Viele Bergleute sind jung an Silikose gestorben.
Weit kommt ihm der Weg vor, der sich neben der Schutthalde emporwindet, auf die man den Abraum aus dem Berg kippte. Nur ein Zehntel des gebrochenen Schiefers war brauchbar. Rino arbeitete von 1946 bis 1953 am Berg, meist am Schneidetisch beim Stolleneingang; er spaltete die herausgebrochenen Schieferblöcke in Platten von zwei bis zehn Millimeter Dicke, ritzte die Formen auf der weichen Seite mit Reissnagel und Schablone an, brach und schnitt aus dem Schiefer Dach- und Bodenplatten, Schieferschindeln, Schreibtafeln, Simsen und Tische.
Der Weg verschwindet im Gebüsch, für einen Augenblick verliert Rino die Orientierung. Weidensträucher, Erlen und Birken wuchern auf dem blättrigen Schutt. Verrostete Schienen, ein Kippwagen, Röhren und Räder liegen auf einem Haufen. Der alte Förderstollen ist eingestürzt, ein Schienenstumpf ragt noch aus der Erde. Endlich erreicht Rino die Lichtung, in deren Mitte die Plattenhütte steht, er erinnert sich. Hier machte er im Winter gegen Mittag ein Feuer, damit sich die Arbeiter aufwärmen, eine Suppe und Kaffee kochen konnten. Sie arbeiteten von morgens sieben bis abens fünf, von Montag bis Freitag und am Samstag morgen. Am Schluss verdiente er etwa 90 Franken in der Woche. Am Samstag nachmittag schaufelten er Sand aus dem Sernft für den Bauunternehmer Fritz Marti, der auch den Plattenberg betrieb.

Die Hütte ist niedrig, die Mauern und das Dach aus Schiefer, die Tür steht offen. Rino tritt ein, modrige Luft schlägt ihm entgegen. Nach der Schliessung des Bergwerks im Jahr 1961 benutzen sie Jugendgruppen, «Pilgerhüsli» steht auf dem Türbalken. Jetzt verstauben und verfaulen Pritschen, Bänke, Tische und das Holztäfer. An den Wänden hangen verrostete Schablonen, Seilrollen, Ketten. Die Seilbahnstation vor der Hütte ist beschädigt, die Schienen des Bremsbergs von Gestrüpp überwuchert. Doch der Zerfall soll gestoppt werden. Im Sommer 1993 wurde auf Initiative von Hans Rhyner, dem Tourismusdirektor des Senftals, die Stiftung «Pro Landesplattenberg» gegründet, der Vertreter des Kantons Glarus und der Gemeinde Engi, der Besitzerin des Bergwerks, angehören. An einer Fachtagung hat die Stiftung beschlossen, das Bergwerk öffentlich zugänglich zu machen. Anzustreben sei «mehr ein Erlebnisbergwerk und weniger ein Schaubergwerk», sagte Eduard Brun, Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Historische Bergbauforschung. Der «Suworowweg» durch das Senftal soll durch einen Schieferlehrpfad ergänzt werden, in Elm stehen bereits Fundamente für ein Schiefermuseum.

Noch ist es ruhig am Berg. Fern rollt der Donner. Rasch und sicher steigt Virginio Maddalon bergan, erste Tropfen fallen auf seinen markanten, fast kahlen Kopf. «Im Winter», erinnert er sich, «musste jeweils einer den Weg stampfen durch halbmeterhohen Neuschnee.» Zwölf Jahre arbeitete er als Hauer im Stollen. «Hätte der Fritz Marti nicht zugemacht, wäre ich heute noch da oben», sagt er. Auch er hat Glück gehabt, drei seiner Brüder starben am Staub. Virginios Lunge ist in Ordnung, nur ein Glied eines kleinen Fingers blieb am Berg, abgeschnitten von einer messerschaften Schieferkante. An diesem Morgen ist der Neunundsechzigjährige noch 60 Kilometer Velo gefahren, und wenn er Pilze sucht, dann klettert er stundenlang die steilsten Hänge hinauf. Als er 1949 in die Schweiz kam, arbeiteten noch ein Dutzend Leute im Bergwerk, Veltliner, Männer aus Belluno und Bergamo. Er selber stammt aus Treviso, er spricht auch heute nur «Arbeiterdeutsch». Am Schluss waren sie noch zu dritt, der Schiefer rentierte nicht mehr, die Ausbeute war schlecht, Dächer wurden mit Eternit gedeckt. Mit dem Fuss tritt Virginio gegen eine rostige Eisenröhre, die den Weg kreuzt. «Druckluft!» Er erklärt: Nachdem der Mineur einen niedrigen Stollen in den Berg gesprengt hatte, bauten die Hauer den Schiefer mit Bohrmeisseln in sogenannten «Kaminen» ab, die nach unten immer breiter wurden. Rund um den Schieferblock, «Bätsch» genannt, bohrte er einen 20 bis 30 Zentimeter tiefen Graben, dann löste er ihn mit dem Brecheisen, liess ihn mit der Seilwinde auf den Rollwagen gleiten und rollte ihn zum Schneidetisch am Eingang des Stollens. Virginio arbeitete in mehreren der Stollen, die bis zu 250 Meter in den Berg vorgetrieben wurden und Namen trugen wie «Wasserloch», «Kreideloch», «Brämenloch». Er arbeitete auch am Schneidetisch, nur das Schlittenfahren war ihm zuwider. Wenn die andern im Winter nach Arbeitsschluss auf Stecken zu Tal sausten, stapfte der Flachländer hinterher. «Rino», sagt er, «der konnte mit dem Schlitten umgehen. Er stammte aus dem Veltlin, aus den Bergen.» Nach der Stillegung des Bergwerks arbeitete Virginio als Stanzer in einem Metallwerk, am Berg war er nie mehr.

Der Schieferabbau habe im frühen Mittelalter begonnen, vermutet Eduard Brun. Im Jahr 1279 mussten die Sernftaler Dachziegel für die Pfarrkirche Glarus liefern, wahrscheinlich Schiefer. Der deutsche Arzt und Naturforscher Valerius Cordus erwähnte 1544 den «schwarzen Tischmarmor». Für den Abbau galt die «Bergfreiheit»; Familien oder Sippen aus dem Tal konnten an irgend einem Ort mit dem Abbau beginnen. Erstmals urkundlich erwähnt ist der «Blattenbruch im Särnfthal» in einem Ratsprotokoll von 1565, weil einige «Gesellen von Diessenhofen» ohne Bewilligung des Rates Schiefer gegraben hatten. Jost Bellersheim, ein zu Beginn des 17. Jahrhunderts in Ennenda lebender hessischer Schreiner, fasste Schieferplatten in Hartholz und schuf damit den ersten bedeutenden Exportartikel des Glarnerlandes. Ab 1670 liess Melchior Jenny aus Ennenda die Plattentische auf dem Wasserweg nach Deutschland, England, Frankreich, Schweden, Ungarn, Russland verschiffen. Schreibtafeln und Griffel gelangten via Holland und England bis nach Indien. Um 1825, nach der Eröffnung der Strasse ins Sernftal, waren im Plattenberg 150 Leute beschäftigt, weitere 50 im Tal in der Verarbeitung. Dank der allgemeinen Schulpflicht boomte die Schieferindustrie. Der Zürcher Oberländer Dichter Jakob Senn (1824-1879) erinnerte sich: «Jedes Kind musste sich eine Schiefertafel anschaffen.» Papier war teuer, die Tafel bot unbegrenzten Raum zum Schreiben und Rechnen.

Rino Bombardieri bewahrt eine Fotografie auf, die ihn in einem mit Balken abgestützten Zugangsstollen zeigt, zusammen mit Virginio Maddalon und drei andern Arbeitern. Sie tragen Karbidlampen in den Händen, Nagelschuhe, fleckige Überkleider, die «Scherer», die an den Schneidetischen arbeiteten, dicke Schürzen. Der Schiefer zerschnitt alles, die Haut, die Kleider, die Schuhe. Kappen oder Hüte schützten den Kopf, Helme trug man nicht. Unfälle gab es viele, aber an Tote kann er sich nicht erinnern. Einmal schlug ihm die Kurbel der Seilwinde gegen die Brust; noch heute spürt er den Schmerz. Auch in der Kniekehle hat er einen Narbe vom Schnitt einer messerscharfen Platte.
Die zwei alten Bergarbeiter begrüssen sich vor der Plattenhütte so selbstverständlich, als hätten sie sich gestern erst verabschiedet und nicht vor vierzig Jahren. Das Foto hat die Erinnerung wachgerufen und den Wunsch, noch einmal hinaufzusteigen, denn: «Wir hatten eine gute Kameradschaft und waren auch nach der Arbeit viel zusammen.» Von der Plattenhütte steigen sie weiter die Schutthalde hinauf, über die der beginnende Gewitterregen streicht. «Achtung», sagt Rino. «Der nasse Schiefer ist heimtückisch. Alles rutscht.» Den Schlitten, mit dem er die Platten über die Schieferhalde zur Seilbahn transportierte, bremste er mit Ketten, trotzdem überschlug es ihn manchmal.

Rino Bombardieri war ein Jahr alt, als er 1925 aus Chiuro bei Sondrio nach Engi kam, wo der Vater im Plattenberg arbeitete. Die hundert Bergleute waren in Akkordgruppen zu vier Mann aufgeteilt. «Beim Wasserloch, direkt hinter der Plattenhütte, war der beste Schiefer. Vater arbeitete mit drei Brüdern und sagte, er habe manchmal ganz schön verdient.» Die Familie kehrte nach Italien zurück, als die Mutter krank wurde. Rino meldete sich zur Marine, überlebte im Krieg die Versenkung des Schiffs, ein Zugsunglück, Verhaftung und Folterung durch die Gestapo. Er hatte nach der Kapitulation Italiens für die Partisanen gearbeitet. Nach einem Todesurteil wurde er zu Gefängnis begnadigt und musste in Wien Blindgänger ausgraben, ein Todeskommando. «Da wäre ich noch so gerne auf den Plattenberg gegangen.» Nach dem Krieg schrieb er einen Brief an Fritz Marti und bekam den Arbeitsvertrag. «Ich könnte ein Buch schreiben über mein Leben», sagt er. Weiss sind seine Haare, weise sein Blick. Bedächtig, sich immer wieder auf den Stock stützend und tief atmend, steigt er durch den Regen hinauf bis zum obersten Stollen, direkt unter der Bergwand. Zersplittertes Holz, Wurzeln, Schutt und Erde hat eine Lawine zurückgelassen. Der Stolleneingang ist mit Pestwurz überwuchert, Wasser tropft vom zerklüfteten Fels. Virginio erzählt: «Einmal wurde ich hier beinahe von einer Lawine verschüttet, konnte mich gerade noch mit einem Sprung retten.» Nur bei grosser Lawinengefahr blieben sie im Tal und schaufelten bei der Sernftalbahn Schnee.

Am Anfang des neunzehnten Jahrhunderts bauten Einheimische im Nebenerwerb den Schiefer im Tagbau ab und verkauften ihn an Plattenhändler im Tal, die meist auch Gastwirte waren. Statt Geld bekamen sie oft Schnaps, Tabak und billige Lebensmittel. Alkoholismus und schlechte Ernährung war verbreitet, die Familien lebten im Elend. Gemeindepfarrer Jakob Heer aus Matt setzte deshalb beim Landrat durch, dass der Plattenberg 1832 zum Landesregal erklärt, das heisst faktisch verstaatlicht wurde. Ab Mitte des letzten Jahrhunderts begann man in Engi bergmännisch korrekt Stollen vorzutreiben. Am Tschingelberg in Elm bauten ab 1868 private Gesellschaften Schiefer ab, der sich gut für Schultafeln und Griffel eignete. Elm und Engi konkurrierten sich, eine Zeitlang beteiligte sich die Landesplattenberg-Verwaltung auch an den Elmer Schieferbrüchen, doch nach mehreren Unglücksfällen zog sie sich wieder zurück. Elm setzte den unsachgemässen Tagbau fort, mit bekannten Folgen: Am 11. September 1881 stürzten nach einer langen Regenperiode die Felsmassen ins Tal und begruben 114 Menschen, 83 Wohnhäuser und Ställe und 90 Hektar Land. Im Jahr 1926 brach auch in Engi der Berg herab und verschüttete mehrere Stolleneingänge, doch Tote gab es keine. Seit 1921 war der Plattenberg in privater Pacht, 1950 fielen die Besitzrechte an die Bürgergemeinde Engi, den «Tagwen», zurück. Zu seiner Zeit sei der Alkoholismus kein grosses Problem mehr gewesen, erinnert sich Rino. Viele Bergleute hätten Tabak gekaut, weil man sagte, das schütze vor der Staublunge.

Kalt und feucht schlägt den alten Bergmännern die Luft aus dem «Kreideloch» entgegen. Zuvorderst, wo der Schutt hoch aufgetürmt liegt, von einer Trockenmauer gestützt, sind mächtige Schieferplatten von der Stollendecke gestürzt, haben die alten Geleise zertrümmert. Eine gewaltige Platte hängt, nur an einer Ecke abgestützt, über dem Eingang, ein zerschrundeter Pfeiler droht einzustürzen. «Aufpassen. Sehr gefährlich!» Sie knipsen Taschenlampen an, betreten vorsichtig den Stollen, warnen vor losen Steinen, die an der Decke hängen, ihr Bergmannsinstinkt ist erwacht. «Man spürte im voraus, wenn etwas herabzustürzen drohte. Wenn Sand von der Decke zu rieseln begann, rannte man ins Freie.» Schächte brechen in die Tiefe, verlieren sich im bodenlosen Dunkel, Verbindungen zu tiefer liegenden Stollensystemen. Eine neue Holzbrücke spannt sich über ein tiefes Loch. «Hundsfalle» hat jemand an die Wand geschrieben. Ein feines Gespinst aus weissen Fäden durchspannt die weiten Räume. Studenten waren im Berg, die Bergarbeiter haben es in der Zeitung gelesen. Es erfüllt sie mit Stolz, dass «Studiosi» sich für ihr einstiges Tagewerk interessieren. Eine Abschlussklasse der Höheren Fachschule für Gestaltung aus Zürich hat den Stollen vermessen, die Brücke gebaut und im Berg mit Licht, Projektionen, Klängen und Video experimentiert. Als Diplomarbeit im Fach «Innenarchitektur und Produktgestaltung» entwickelten die Studentinnen und Studenten Ideen, wie die Bergwerksanlage zeitgemäss genutzt werden könnte. Eine «völlig neue, ungewohnte, gewaltige Problemstellung in bezug auf Proportionen, Geschichte, Wahrnehmung», sagte Projektleiter Helmut Winter an einer Ausstellung der Arbeiten in Engi. Für Schiefermuseen in Elm und Engi, einen Schieferlehrpfad, die Zugangswege, die Gestaltung der Stolleneingänge, Beleuchtung, Laufstege und Schaukästen haben die «Studiosi» Pläne ausgearbeitet und in einem Buch veröffentlicht. «Tief beeindruckt von der Vielfalt und der Kreativität der Ideen» zeigte sich der Präsident der Stiftung «Pro Landesplattenberg», Ständerat Kaspar Rhyner aus Elm. Beachtung fanden auch visionäre Vorschläge, etwa die riesigen Räume unter Tag als Kunsthalle oder Ateliers für Skulpteure zu nutzen oder mit eigens komponierten Klanginstallationen auszustatten, so dass Besucher «innere Erlebnisräume» durchschreiten könnten. «Wo sonst fände man Banalität und Geheimnis, Schutz und Bedrohung so dicht beieinander wie unter der Erde?» schreibt ein Student.

Die Musik des Bergs, das leise Tingeln des Schiefers unter den Schritten, das unablässige Tropfen des Wassers vom schwarzen Fels, begleitet Rino Bombardieri und Virginio Maddalon bei ihrem Gang durch die Vergangenheit. Kühle, feuchte Luft zieht durch die Schächte, der Atem kondensiert. Die ständige Nässe und der Durchzug seien das Schlimmste gewesen, erinnern sie sich. Im Winter froren die Tropfstellen ein, spitze Eiszapfen hingen drohend über den Köpfen. Bei einer Abbaustelle halten die Bergmänner inne. Der letzte «Bätsch» ist fast gelöst vom Berg, der Graben rundum in den Fels gebohrt. «Noch zuwenig tief», stellt Virginio fest, putzt mit den Händen Schiefersplitter aus dem Spalt. Einen oder zwei «Bätsch» schaffte er im Tag. «Aber dieser hier ist nichts wert.» Er zeigt auf die Quarzadern, die durch den Schiefer ziehen. Einmal, als die Druckluft ausfiel, arbeitete er von Hand mit dem Spitzhammer weiter: «Unvorstellbar, wie die das früher geschafft haben.»
Durch den Abbau von oben nach unten, den Schieferschichten folgend, sind im Berg dutzende von Metern hohe Räume entstanden, Kreuzgänge mit Spitzbögen, die sich auf schiefe, nach unten dünner werdenden Säulen stützen. Man fühlt sich im Inneren eines gewaltigen, gotischen Domes, umhüllt von sakraler Stille. Die bizarre Formensprache der Kavernen macht die Faszination des Schieferbergwerks aus. Eine Säule ist eingestürzt, der Schiefer zerborsten, ein tonnenschwerer Felsbrocken ist aufgeblättert wie ein Buch aus Stein. Begeistert greift Virginio zwischen die Platten und zählt: «Acht Schiefertische gäbe das, jeder zweitausend Franken wert. So gutes Material fanden wir selten.»

Draussen dampft das feuchte Gebüsch, das Gewitter ist abgezogen. Millionen von Schieferbruchstücken glitzern im Sonnenlicht. Beim Abstieg bückt sich Rino nach einer Platte, klopft drauf, sie spaltet sich. Seltsam verästelte Strukturen treten zutage. «Lange habe ich einen versteinerten Fisch aufbewahrt. Beim Zügeln ist er verlorengegangen.» Viele Male ist er umgezogen, seit er den Berg 1953 hinter sich liess: Er heiratete, bildete sich weiter, wurde Webereimeister, unterrichtete in Nigeria schwarze Arbeiter, montierte Webmaschinen in Südamerika, im Iran, in ganz Europa. Auch Virginio besitzt einen versteinerten Fisch. «Zerbrochen», betont er. Denn eigentlich mussten sie die Versteinerungen abliefern. «Vielleicht verkaufte sie der Fritz Marti, vielleicht gab er sie ins Museum.» Rino schaut über die Schutthalde ins Tal. «Da müssen noch viele liegen. Wir hatten nicht Zeit, alles zu durchsuchen.»

Die Sintflut habe die Fische vernichtet, die sich im Glarnerschiefer finden, vermutete der Zürcher Arzt und Universalgelehrte Johann Jakob Scheuchzer (1672-1733) in einem 1708 erschienen Werk. Heute datiert die Wissenschaft die Versteinerungen ins Oligozän. Trübeströme verschütteten die Fische vor 35 Millionen Jahren am Grunde eines Meeres am Nordrand der entstehenden Alpen. Der Urschlamm wurde zwischen Kalk- und Verrucanoschichten zu kalkarmem Tonschiefer gepresst, die Fische plattgedrückt und verstreckt. Ihre Körper kristallisierten zu Pyrit. Die Engi-Schichten, die dem helvetischen Flysch angehören, sind die einzige Fundstelle für die Knochenfische des Oligozän. Einige Fossilien, etwa der Hering «Meletta scheuchzeri», sind in der «Glarnerecke» im Paläntologischen Museum in Zürich ausgestellt, auch ein versteinerter Eisvogel, «Protornis glaronesis», sowie die Schildkröte «Glarichelys knorri».

«Zeitreise» heisst eines der Projekte, die von den Studenten ausgearbeitet worden sind. Auf einem «Zeitsteg» sollen 35 Millionen Jahre der Erdgeschichte durchschritten werden, und dabei der Weg nachvollzogen vom ersten Leben und der Entstehung des Schiefers über seine Ausbeutung und Nutzung bis in die Gegenwart. Einst war der Schiefer der verborgene Schatz ­ heute ist es das Zurückgebliebene, der ungeheure Raum in Innern des Bergs.

Zur «erstarrten Geschichte» gehört auch die Schiefertafelwerkstatt der Gebrüder Schenker in Elm, 1898 gegründet, 1983 von einem Tag auf den andern verlassen. Aufgetürmt liegen dort noch tausende von Jasstafeln, die menningerote Farbe, mit der man die Lineaturen ausfüllte, ist eingetrocknet, auf Schiefertafeln ist bis zum letzten Tag peinlich genau Buch geführt über Anlieferung und Ausschuss. Lederschürzen und Regenschirme hangen noch an der Wand, im Schreibpult liegen Kalender und Stempel. Auch die Werkstatt erzählt vom Ende der bedeutendsten Industrie im Sernftal. Tourismus, nicht Bergbau oder Handwerk, heisst die Zukunft des Tals. Die Arbeitswelt von gestern soll zur Attraktion für die Freizeitgesellschaft von morgen werden.

«Vielleicht gehe ich nochmals hinauf, wenn hier ein Museum ist», sagt Rino Bombardieri beim Abstieg etwas wehmütig. «Wenn ich es dann noch schaffe.»
Die alten Bergarbeiter geben sich die Hand, dann lachen sie. Beiden fehlt ein Finger, stellen sie fest. «Hast du deinen auch am Berg gelassen?» fragt Virginio.
«Nein, den habe ich erst nach der Pension verloren.»
Kurz ist der Abschied. So, als ob sie morgen wieder hinaufsteigen müssten. Rino sagt: «Wir hatten es gut zusammen. So schön wie hier hatte ich es nie mehr, weder vorher noch nachher.»
Auf ein Bier will er nicht mitkommen. «Ich rauche jetzt noch eine feine Zigarette», sagt er. «Dann wende ich den Wagen.» Ein paar Minuten will er allein sein, sich Zeit lassen, allein mit dem Berg, mit seiner Geschichte, mit den Erinnerungen an ein langes Leben.

 

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