3. Preis im Arbeiterliteratur-Wettbewerb 1995:

Hinter dem Berg beginnt das Leben

Philomena Barbisch hiess die Anführerin. So steht es in der Chronik, welche die Ordensschwestern der «Industriellen Versorgungsanstalt» in Rüti im Glarner Hinterland führten, fast hundert Jahre lang. Man schreibt das Jahr 1866, eine sternklare Nacht spannt sich über dem Tal. Der Mond steigt hinter der schwarzen Pyramide des Kilchenstock, schwer fällt der Schatten des Bergs auf die jenseitige Talflanke, hinter der die Freiheit wartet, irgendwo. Eng ist das Tal, eng sind die Herzen.
Philomena drückt auf die Türfalle des Zimmers, in dem die frommen Schwestern schlafen, sachte, sachte. Die Oberin, Schwester Roberta, liegt auf dem Rücken, zieht geräuschvoll Luft durch die Nase, auf dem Nachttisch liegt der Rosenkranz. Die Schlüssel stecken in der Tasche ihrer Tracht, die am Haken hängt. Ein flinker Griff, dann huscht Philomena davon.
«Psssst!» macht sie, als sie zurück ist in der Kammer, wo die andern warten, unruhig auf den Pritschen sitzen und die Beine schlenkern, zwölf Mädchen, alle aus dem Wallis.

Zehn Jahre zuvor hatte der Fabrikant Johann Jakob Becker für seine Spinnerei und Weberei an der Linth eine sogenannte «Industrielle Versorgungsanstalt» nach den Konzepten des Kapuzinerpaters Theodosius Florentini errichtet, «dem grössten Philantropen, den die Schweiz hervorgebracht hat», wie ein Biograf berichtet. Das Übel der Industriegesellschaft, die sich damals rasch entwickelte, sah Pater Theodosius in der «überhand nehmenden Demoralisation und Irreligiosität». Die Therapie für die verwarloste Jugend hiess Gebet und Arbeit, in seinen Worten «zeitensprechende Lebensgestaltung aus den unveränderlichen, ewig gültigen Werten.» Ordensschwestern aus Ingenbohl liessen sich herbei, das Fabrikheim zu führen, sie kochten und sorgten für Nachschub an Kindern aus den armen katholischen Landstrichen, der katholische Pfarrer von Linthal erteilte zwei Mal in der Woche Unterricht in Lesen, Schreiben, Rechnen, Religion. 600 Franken nahm er dafür im Jahr, mehr als ein Weber verdiente. Dafür vollzog er auch wöchentlich die Strafen, mit dem Meerrohrstecken auf die flache Hand.

Neunjährig ist die Jüngste, gegen zwanzig die Älteste. Ihre paar Sachen haben sie in Nastücher gebunden, berichtet die Chronik, die Zipfel fest verknotet, eine Schürze vielleicht, ein Hemd, Strümpfe, ein Bildchen der Mutter Maria, ein Batzen, eine Brosche. «Mir nach», flüstert Philomena. Geduckt schleicht sie voran durch den Gang, die Treppe hinab, hinter ihr knarrt der Boden. Alle erstarren vor Schreck. Dann geht es weiter.
Schwer lässt sich der Schlüssel drehen, das Schloss springt mit metallenem Knacken. Sie stehen draussen, drängen sich an die Mauer. Schwarz steht die Fabrik in der Nacht, eine seelenlose Fassade, das grosse Wasserrad, das die Transmissionen treibt, dreht sich knarrend. Sie denken an die Arbeit, Spulen aufstecken, Fäden anknüpfen, Maschinen putzen und ölen, immer auf den Beinen, gehetzt von früh bis spät. Über dem Tal im Süden schwebt die Kuppe des Tödibergs, unendlich hoch wie ein Geisterschiff mit weissen Segeln. Kalt ist es, die Kleinste zittert, ihre Zähne schlagen aufeinander, vielleicht hat sie Angst. Irgendwo bellt ein Hund.
«Wohin?» fragt ein Mädchen flüsternd. Ja, wohin? In die Freiheit und das heisst weg. Weg aus diesem engen Tal, in das man sie gesperrt hat, gegen ihren Willen. Weg aus diesem Gefängnis zwischen hohen Bergen. Weg aus der dampffeuchten Fabrikluft, die den Hauch der Schwindsucht trägt.
Wohin? Ins Wallis vielleicht, das weite Sonnetal, in die Heimat, die keine ist, denn die wenigsten haben Eltern, oder sie kennen sie sie nicht. In die Stadt? Nach Zürich hinab, Linth und Limmat entlang, dann dem See entlang, zwei Tage Fussmarsch. Oder lieber ins katholische Luzern? Oder noch weiter, über die Berge in den Süden, ins Land, wo die Zitronen blühn? Was ist das für eine Frage, wohin? Die Freiheit ist grenzenlos, und jetzt gehört sie ihnen, dort, hinter dem Berg beginnt sie, jenseits des Passes. Ein langer Weg, ein strenger Weg, doch sicherer als talaus, wo morgen früh schon ein Landjäger steht, sie in Empfang nimmt und an einer Kette zurückbringt in die Anstalt oder weiss Gott wohin. Der Mond steigt, der Schatten des Berges sinkt. Es ist keine Zeit mehr zu verlieren. Die Freiheit gibt es nicht umsonst. Jetzt oder nie!

«Folgt mir nur», flüstert Philomena, sie hat einen Plan. Gebückt hasten sie hinter ihr her über den Hof und dem Kanal entlang, eine lange Reihe von Schatten, nur weg von der Fabrik, weg von der Oberin, die befiehlt und straft, weg von den Meistern die hetzen, weg vom Pater, der einen mit weichen Händen tätschelt, dann wieder zuschlägt mit dem Stock. Philomena biegt beim Fluss gegen Süden, dann laufen sie über die Brücke, die Kleinste nehmen zwei in die Mitte. Kein Wort fällt. Und dann geht es bergauf gegen den Pass, steinig ist der Weg. Schon schmerzen die Füsse in den groben Schuhen, in der Fabrik laufen sie barfuss über die öligen Tannenböden, ihre Sohlen sind verletzt von unzähligen Holzsplittern und entzündet. Jetzt geht der Mond auf über dem schwarzen Kilchenstock, grelles kaltes Licht wirft schwarze Schatten, doch sie sind schon im Wald. Die Kleinste weint vor Angst. «Schnell», ruft Philomena. Sie ist weit voraus, wie eine Hexe sieht sie aus mit ihrem Stecken, an dem das Bündel baumelt, die schwarzen Haare flattern um ihre Schultern. Barbisch heisst «die Haarige» in der Sprache des fahrenden Volks. Ein paar Gulden hat sie in der Rocktasche, in Zeitungspapier gewickelt, woher weiss niemand, denn der Arbeitslohn liegt in der Fabrikkasse. Es ist wenig, denn fast alles ist draufgegangen fürs Kostgeld und fürs Kirchengeld, für Kleider und Schuhe.

Es war eine bewegte Zeit. Zwanzig Jahre zuvor hatten zwei Männer im fernen England ein Manifest verfasst, «die Proletarier haben nichts zu verlieren, als ihre Ketten», stand darin. «Sie haben eine Welt zu gewinnen.» Nichts davon wussten die zwölf Walliser Mädchen, die sich auf den Weg machten, Kinder der Landstrasse waren sie, Lumpenproletariat, in die Fabrik gezwungen und ausgebeutet von Frommen und Frömmlern, von Reichen und Mächtigen. Und doch spürten sie das Neue und handelten darnach. Der Funke des Aufruhr hatte sich verbreitet, «ein Gespenst ging um in Europa», hatte selbst das Bergtal erreicht, in dem die Industrie aufblühte wie nirgendwo sonst auf dem Kontinent. Bernhard Becker, der reformierte Pfarrer von Linthal, hatte ein Buch geschrieben und darin die sozialen Verhältnisse in der Industrie gegeisselt, Reformen verlangt. «In den Spinnereien müssen die Kinder meistens von morgens 5 Uhr bis abens 7 1/2 Uhr thätig sein. Diese Arbeit ist schuld, dass die Kinder nichts werden. Das ist ein Zustand, gegen den man sich mit aller Macht erheben sollte.» Glarner Arbeiter hatten ein Fabrikgesetz verfasst, an der Landgemeinde im Jahr 1864 wurde es in Kraft gesetzt, als erstes in der Schweiz. «Alltagsschulpflichtige Kinder dürfen in keiner Fabrik zur Arbeit verwendet werden», stand darin.
Doch für die Ärmsten der Armen, die Kinderarbeiterinnen und -arbeiter der Versorgungsanstalt in Rüti, galt das Gesetz nicht, da sie in andern Kantonen heimatberechtigt waren, und so mussten sie weiterhin schon als Neunjährige an der Maschine stehen wie zuvor, von morgens 7 bis abends 7 mit einer Stunde Pause für einen Teller Suppe aus dem grossen Kessel, einen Schluck Wasser, ein Stück Brot. Das Wasser schöpften die Schwestern aus dem Kanal.

Mit jedem Schritt versinkt das Tal tiefer in der Dunkelheit, mit ihm die schrecklichen Erinnerungen. Philomena denkt an Josef Böni, der vor drei Jahren in die Transmission gefallen ist, neun Knochen hatte er gebrochen, nach drei Tagen ist er gestorben, neunzehn Jahre alt. Der Pater hatte gebetet, die Sakramente gespendet. Barmherzig der Tod, sonst schiebt man die Kranken ab in ihren Heimatkanton, ersetzt sie durch gesundes, frisches Leben, Maschinenfutter. «Aber wehe dir, Mensch, wenn du mit einer Maschine auf du und du dich stellst! Du kannst mit ihr wetteifern, aber sie tötet dich; und wenn sie dich getötet hat, geht sie kalt und stumm weiter und macht sich wieder an ein anderes armes Menschenleben», hat Pfarrer Becker geschrieben.
Philomena aber will leben, leben, leben. Dreimal schlägt es von der Kirche im Tal, bald wird die Glocke vom Fabrikdach tingeln, die Menschen wecken. Immer weiter zurück bleibt die Kleine, die andern müssen sie schleppen, steil steigt der Weg zum Pass. Wenn sie nur vor Tagesanbruch die Alp erreichen, die schon zu Uri gehört, den Urnerboden. Dort sind die Leute katholisch, sie werden ihnen weiterhelfen, vielleicht Milch verkaufen als Wegzehrung. Grau fällt das Morgenlicht auf die Felsen hoch über dem Weg. Und dann? Im Urnerland werden sie sich trennen, denkt Philomena, zu zwölft ist kein Weiterkommen. Jetzt zieht sie die Kleine bergauf, spricht ihr zu. «Weisst du, vielleicht kannst du auf der Alp bleiben, bei den Sennen, da gibt es Käse und Butter, da hat es Schweine und Kühe, da hat es einen Hund und Katzen. Dort kannst du gewiss im warmen Heu schlafen, dich ausruhen.» Alle Kraft nimmt die Kleine zusammen, Tritt um Tritt. Ein Hund, eine Katze, das wäre ein Traum.

Philomena dagegen will weiter. «Basel», geht ihr durch den Kopf. Dort fliesst der Rhein. Ein Schiff besteigen, das bis zum Meer fährt und weiter. In der Neuen Welt, hat Josef erzählt, wenn sie sich heimlich trafen, in der neuen Welt ist alles anders, es gibt keine Fabriken, nur weites Land, das allen gehört, mit Planwagen fahren die Siedler gegen Westen, jeder baut sein Haus wo er will, jeder pflanzt sein Getreide, seine Kartoffeln selber, geht auf die Jagd. Bilder ziehen an ihr vorüber, wie so oft in der Nacht, wenn sie auf der Pritsche lag, mit zwei andern eng zusammengekauert unter der Decke, von Wanzen gebissen. Sie sieht das Haus, das ihr gehört, den Garten, die Pferde, die Kinder. Leben will sie, auch wenn Josef tot ist, Kinder aufziehen in einer besseren Welt. Zart fällt ein roter Schimmer auf die Felswände, die sich plötzlich himmelhoch türmen. Ist hier die Welt zuende? Sie waten durch einen Bach, kalt ist das Wasser, doch es löscht den Durst. Der Abhang wird sanfter.

Nach einem Waldstück fällt der Blick auf eine Ebene zwischen himmelhohen Bergwänden, die in der Morgensonne leuchten, in der Ferne spannt sich ein weisser Sattel zwischen Felsen und Gletschern, eine Vision, der erste Schnee liegt am Pass, dahinter schimmern blaue Gipfel. Davor breitet sich grün und friedlich die Alp. Jetzt sind sie im Kanton Uri. Und dort, hinter dem nächsten Pass, noch höher als dieser, hinter den blauen Gipfeln, liegt das Wallis, die Heimat. Das sagt Philomena den andern, und trotz der Erschöpfung, trotz den wunden Füssen jubeln sie, laufen auf die Hütten zu, aus denen Rauch steigt. Verwundert glotzen ihnen die Kühe entgegen, eine schüttelt wie zum Empfang ihre Glocke.

Vielleicht begann die Flucht der zwölf Wallisermädchen auf diese oder ähnliche Weise, niemand weiss es, sie verschwanden, so steht in der Chronik, «bei Nacht und Nebel auf Nimmerwiedersehen». Bloss der Name des Mädchens, das die Führung ergriff auf dem Weg in die Freiheit, hat sich in der Chronik der frommen Schwestern erhalten, das weitere Schicksal der Philomena Barbisch ist dem grosse Vergessen anheimgefallen. Wie auch ihre Träume, die wir nur erahnen können. War es das neue Leben, die neue Welt? War es der Kampf für Gerechtigkeit und Menschenwürde? Oder träumte sie einfach von einem Zuhause, von Vater und Mutter, einem Garten und einem kleinen Hund? Wir wissen nur, dass sie sich auf den Weg gemacht hat, mit zwölf andern, dass sie sich aufgelehnt hat gegen ein Schicksal, das unabänderlich erschien. Sie glaubte, dass man sein Leben in die eigenen Hände nehmen, das ist gewiss.
«Solche Ausreisser gab es anno dazumal mehrere, Knaben und Mädchen, die durch das untere Abortfenster zu entrinnen suchten, und es auch fertig brachten, bis ein Eisenspitzgitter solche Pläne vereitelte», berichtet die Chronik.

 

[ Copyright © Emil Zopfi ]