Veröffentlicht in meinem Buch «Über alle Berge»

Martinsmad

© Emil Zopfi

Die Seilbahn schwebt über eine abgrundtiefe Schlucht, die offene Kiste schaukelt leicht. Ich halte mich fest. Schiefergestein, silbrig im Morgenlicht, abschüssig und schuppig. Der Anblick von Schiefer hat etwas Haltloses, der Berg zerblättert und zerfällt. Kein Klettergestein. Auf der andern Seite der Schlucht rupfen Ziegen taufeuchtes Gras, braunes und schwarzes Fell, nur eine ist weiss. Man wundert sich, dass sie nicht abgleiten und in die Schlucht stürzen, wo Wasser rauscht. Ich schaue nicht hinab. Vertraue mich dem Mann an, der unten mit einem grossen Rad meine Fahrt lenkt, den Blick auf ein Ampèremeter gerichtet. Er hat mich ausser Fahrplan einsteigen lassen, ich habe ihm ein gutes Trinkgeld gegeben.

Eigenartiger Gegensatz: Die einfache Seilbahn zur Alp, auf der sich bei einer Gruppe von kleinen Hütten und Käsespeichern die Masten der Hochspannungsleitung erheben. Doch die Seilbahn, so alt sie auch sein mag, fährt mit Strom. Elektronen kennen kein Alter, und woher sie kommen, ist an der Steckdose nicht mehr zu erkennen.
In solche Gedanken versunken wandere ich in den Morgen und das unbekannte Tal, überquere eine Blumenwiese, die ich gerne beschreiben würde in ihrer Pracht, doch mir fehlen die Worte. Mein Gehirn speichert viel, aber fast keine Blumennamen und auch mit Personennamen habe ich zunehmend Mühe. Dafür kann ich noch manche Formeln aus dem Studium auswendig hersagen: U(ind)=4.44xBxAxfxn. Die Transformatorenformel. Warum keine Blumen? Doch, Margriten sehe ich. Weiter oben Vergissmeinnicht, ein paar Steinrosen, Enzian. Das wärs dann. Ich bin ein schlechter Beobachter, meine Gedanken wandern andere Wege als meine Füsse, mein Blick geht nach innen. Deshalb verlaufe ich mich auch immer, ich verfolge Ideen und Geschichten statt Wege. Hier ist er zum Glück gut markiert, führt über Steilstufen, Tritte in den Schiefer gehauen, Drahtseile, eine schwankende Brücke über eine Klamm, die das Wasser in hunderttausend Jahren ausgewaschen hat. Betrete eine Hochfläche, und schon sehe ich über einer nächsten Steilstufe die Hütte.

Martinsmad. Welch seltsamer Name. Der heilige Martin soll hier Schafe geweidet haben, heisst es in einer Legende. Übers Martinsloch, droben an den Tschingelhörnern, die wie ein romantischer Scherenschnitt in den Himmel zacken, erzählt eine Sage von einem Glarner Alphirten und einer Bündner Sennentochter, die sich durch diese Pforte in den Felsen fanden. An Martini, dem Martinstag, 11.11., an dem auch der Karneval beginnt. Ein Geschenk des Himmels für Romeo und Julia von Martinsmad also, dieses Felsenfenster, durch das die Sonne zwei Mal im Jahreszyklus scheint und die Marke Elm regelmässig auf die vermischten Zeitungsseiten bringt. Gelegentlich blickt auch der Mond durchs sagenhafte Loch, sein Durchgang ist schwierig zu berechnen, der Mond ist der Chaot am Himmel.

Mit diesem Gedanken bin ich von den Blumen wieder bei den Formeln und der Hochspannungsleitung, die mich begleitet wie der Bach. Vor vierzig Jahren habe ich Hochspannungsleitungen berechnen gelernt, und so betrachte ich diese Energiestrasse sozusagen mit dem Blick des Fachmannes. Zwei Stränge, 3-phasen, 380 Kilovolt, Zweierbündel, aufgesplittet in zwei Leitungszüge, wahrscheinlich um die Masten niedriger und stärker zu halten. Sehr ungewöhnlich eigentlich, diese Anordnung. Es soll sich um die höchste Hochspannungleitung Europas handeln. Links und rechts der Hütte führen die Stränge vorbei, sehr nahe, und ich denke an das elektromagnetische Feld, Elektrosmog, an Leukämie und Krebs, die Wirkung der Felder auf den Organismus ist umstritten. Vielleicht schlafen elektrosensible Menschen schlecht in der Hütte, vielleicht geben die Kühe auf der Alp weniger Milch.

Doch ohne Strom und moderne Technik würde ich nicht hier stehen, ohne die viel geschmähte High-Tech-Medizin wäre ich vielleicht längst einem Herzinfarkt erlegen, meine Gelenke wären von Arthritis zerfressen und meine Augen vom grauen Star getrübt. Statt der Blumenwiese würde ich nur Farkbklekse sehen, am Stock würde ich über Spazierwege im Park einer Reha-Klinik humpeln. Bei dem Gedanken fällt mir mein Professor für elektrische Anlagen ein, Paul Sattler, der uns das Berechnen von Hochpannungsleitungen beigebracht hat, mit dicken Bündeln von Schmapsmatritzen und einem Augenzwinkern, denn er wusste, dass wir seine Formeln niemals brauchen würden in der Praxis. Im Pensionsalter liess er sich einen Bart wachsen, wurde ein Grüner, beschäftigte sich mit Alternativenergie und starb an einem Infarkt auf einer Wanderung. Könnte mir ja auch passieren, heute, trotz meiner Nitroglyzerinpillen im Rucksack.

Die Hütte, auf einer Felsenkanzel, Fahnen, Menschen auf der Terrasse, die noch im Schatten liegt, ein Generator summt. Strom, Strom. Auch das wieder ein eigenartiger Eindruck. Ein paar Meter nebenan fliesst elektrische Energie für eine Millionenstadt vorbei, doch die Hütte erzeugt ihren Strom mit einem Agregat und mit Sonnenzellen auf dem Dach. Bestimmt könnte man durch eine Apparatur nach dem Induktionsprizip die Leitung drahtlos anzapfen, den Verlust würde niemand bemerken. So wie Menschen im Irak oder in Nigeria die Pipelines anzapfen, die Öl in die Industrieländer entführen. Eine Hochspannungsleitung hat ja auch etwas Kolonialistisches: Arme Bergtäler versorgen die reichen Städte mit Strom, gegen bescheidenen Wasserzins hat man ganze Dörfer versenkt. Oder eben Hochspannungsleitungen wundervolle und stille Täler gezogen wie dieses Martinsmad.

Im Hüttenprospekt sind die allgegenwärtigen Leitungsstränge allerdings ausgespart. Man möchte sie nicht sehen und nicht zeigen. Je länger man wandert, desto weniger nimmt man sie wahr. Man klinkt sie aus, wie man so vieles, das hässlich ist und einen stört, verdrängt bis zur Blindheit. Die Slums neben dem Ferienparadies, die Abfallhaufen hinter dem Palmenstrand, die Bettler auf dem Boulevard. Ich sitze am Bach, esse eine Banane aus Costa Rica, die Sonne steigt über den Grat, der nahe Hochspannungsmast glänzt. Die Leitungsseile schwingen sich in eleganter Linie über die gewaltige Felswand des Talkessels hinauf bis in den Himmel. Natur und Technik in Schönheit vereint, denke ich. Und philosophiere über Schönheit. Was ist schön? Die Blumen selbstverständlich, da sind wir uns einig. Die Masten? Hätte sie ein Künstler da hingesetzt, ein Tinguely oder Luginbühl, dann wären sie Kunst und man würde sie vielleicht nicht schön, aber doch nicht störend empfinden, sondern bemerkenswert, von tiefer Aussagekraft. Hätte Cristo diesen Leitungszug installiert, wie er auch schon mit Stahlseilen einen Vorhang in einen Canon hängte, die Kunstwelt würde ins Martinsmad pilgern, man müsste einen Helikopterlandeplatz einrichten, es würden Filme gedreht und Fotobände herausgegeben mit Essays berühmter Autoren. Man kann sich fragen, ob nicht jede Installation von Cristo hässlicher sei als dieser Leitungszug, den leider kein Künstler, sondern ein namenloser Ingenieur entworfen hat. Die Ingenieurkunst, die sich hier manifestiert, lockt kaum Gäste ins Martinsmad, schreckt Natur-Puristen wohl eher ab.

Die Hochspannungsleitung dient einem Zweck und keiner Kunst, sie stört und schön finden sie - ausser mir - wohl nur wenige. Schön finden wir in der Regel nur Unberührtes oder Unnützes. Die romantische, unberührte Natur, oder das zur Kunst erklärte Objekt, und sei es bloss aus Schrott zusammengeschweisst. Und die Berghütte, aus Steinquadern gefügt, ist sie schön? Wem nützt sie? Was ist ihr Zweck? Ich entferne sie in Gedanken und stelle fest: Nur wenige würden sie vermissen. Ihre alpinistische Bedeutung ist bescheiden. Aber für die Wenigen wäre es ein schmerzhafter Verlust. Ich entferne die Hochspannungleitung und stelle fest: viele würden sie vermissen. In Gaza haben die Israelis eben ein Kraftwerk bombardiert, 750'000 Menschen sind ohne Strom und Wasser. Eine intakte Stromleitung wäre dort wohl das Schönste der Welt.

Ich notiere meine Gedanken in ein Ringbüchlein. Eine rothaaarige Frau mit Wanderstöcken geht vorbei, die Tochter folgt ohne Stöcke, dafür mit einer blauen Baseballmütze auf der «Protest» eingestickt ist. Dass da einer in freier Natur sitzt und schreibt, scheint die beiden zu irritieren. «Zählen Sie die Leute?», fragen sie.
«Ja», sage ich und mache zwei Striche in mein Büchlein. «Ich führe Statistik.» Hätte gern einen Spruch gemacht über die Wanderstöcke, doch da sind sie schon vorbeigeklappert. Offenbar mit dem gleichen Ziel wie ich: Das Mittagshorn. Auch Wanderstöcke sind heute High-Tech-Produkte, Material aus der Raumfahrt, die Federeigenschaften mit Differentialgleichungen auf dem Computer optimiert, mit denselben mathematischen Instrumenten, mit denen man die Geometrie hängender Hochspannungsseile oder den Monddurchgang durchs Martinsloch berechnet. Mein Schwager, Ingenieur wie ich und ein grosser Wanderer, hat mir die Vorzüge von Wanderstöcken erklärt, ihre knieschonenden dynamischen Eigenschaften etcetera, trotzdem mag ich keine Stöcke durch Gebirge tragen. Obwohl schon mein Vater einen Wanderstock besass, Holz, mit gekrümmtem Griff und Stahlspitze.

Zum Mittagshorn zeigt ein blauer Wegweiser, zum Vorab geht's in die andere Richtung und in meine Erinnerung. Sylvester 1961, Föhnsturm und dichter Nebel. Auf dem Panixperpass haben wir übernachtet, zu viert, erbärmlich gefroren im wollenen Schlafsack. Über einen langen Grat erreichen wir den Vorab gegen Abend, in unablässig tobendem Sturm, der uns Eiskristalle ins Gesicht peitscht. Die Ski müssen wir oft tragen, einmal über eine Felsstufe ein Seil spannen. Auf dem Vorabgipfel entgleitet Edi ein Ski, saust in die Tiefe, verschwindet im Nebel. «Der liegt jetzt wohl in Elm unten», sagte einer. Trotzdem suchen wir und finden ihn. Der Ski hat sich überschlagen, ist stecken geblieben. Manchmal geschehen auch in den Bergen Wunder. Edi übrigens, grosser Bergsteiger und Alpinist, starb auf einer Wanderung an einem Schlaganfall wie mein Hochspannungs-Professor. Kann man sich einen schöneren Tod wünschen?

Noch lebe ich aber, stehe auf und strebe dem Mittagshorn zu. Die beiden Frauen werde ich mit links einholen, denke ich, doch sie sind schnell, der Abstand bleibt immer gleich. Ach ja, auch grosse Bergsteiger werden einmal alt. So erreiche ich den Grat, als die beiden schon drüben am Gipfel neben dem Steinmann sitzen. Ich schreite über einen Dachfirst hoch über Abgründen, links steile Halden, Runsen mit Lawinenresten, tief unten Elm, die Kirche, deren Standort vom Sonnenstrahl durchs Martinsloch bestimmt worden sei, die Hallen von Elmer Citro und die Seilbahnstation. Rechts silbrige Schieferplatten, die das Sonnenlicht spiegeln. Wunderbar luftig ist der Grat, ein Hochgefühl. Der Gipfel bescheiden mit Steinmann, roten Vermessungsmarken, einem Fleck Enzianen. Noch ist er nicht durch eines der Holzkreuze aus dicken Balken verunziert, die jetzt auf vielen Gipfeln auftauchen, von Helikoptern abgesetzt und von freiwilligen Helfern einbetoniert. Wenn ich zaubern könnte, würde ich die Kreuze allüberall auf der Welt von allen Gipfeln zaubern. Sie stören den Zauber der einsamen Spitzen, die sie besetzen, in wessem Namen auch immer. Wie dieser grandiose Aussichtspunkt, der jetzt nur von Mutter und Tochter besetzt ist. Ich setze mich rittlings auf den Grat, ziehe mein Büchlein hervor.

«Schreiben Sie einen Rapport?», will die Tochter wissen, ich bejahe und sage, dass sie darin vorkomme, was ja nun stimmt. Ich rapportiere also auch, dass sie wie erwartet ihr Handy hervorzieht. Sie habe Empfang, bestätigt sie, während mein Handy Null Signal zeigt. Ich bin offenbar bei der falschen Telecomgesellschaft.
Ein blauer Helikoper kreist mehrmals um die zerschrundeten Gipfel von Gletscherhorn und Zwölfihorn - das man seit der Einführung der Sommerzeit wohl umtaufen müsste, Elfihorn. Der Heli kreist, keine Rettung, kein Absetzen eines massiven Gipfelkreuzes, keine tote Kuh am Seil. Zwecklos offenbar oder zweckfrei, ein Übungsflug oder das Verstreuen der Asche eines Verstorbenen, wie einst am Glärnisch. Helikopterbestattung nennt man das. Die Tochter mit der Protestmütze wünscht sich mit dem Gleitschirm in die Tiefe zu schweben, wogegen ihre Mutter protestiert. Sie würde das nicht zulassen. Wahrscheinlich wird es die Tochter trotzdem einmal versuchen. Ich verabschiede mich, «Rapport beendet», sage ich.

Wende mich wieder dem Martinsmad zu, die Strommasten fügen sich aus der Höhe betrachtet beinahe harmonisch ins wilde Tal, sehen so zierlich aus, als hätte der liebe Gott Modelleisenbahn gespielt. Unten am Bach schreckt mir ein Ruf, vier Kinder spielen am Wasser, das im Sonnenlicht funkelt, sie lachen und winken und ich winke zurück und denke, dass sie hier wie im Paradies leben. Die freundliche Hüttenwartin bereitet mir einen Kaffee, ich trinke ihn auf der Hüttenterrasse, den Kuchen habe ich selber mitgebracht. Der Hüttenwart erklärt mir Kletterrouten in der Felswand hinten im Tal. Es gäbe noch viel zu entdecken. Ich schliesse die Augen, spüre die Sonne auf dem Gesicht, leichte Müdigkeit in den Gliedern, höre das leise Rauschen des Wassers, das Koronaknistern der Stromleitungen, das Flüstern des Windes.


[ Copyright © Emil Zopfi ]

Foto: Klemens Winzeler

Link Martinsmadhütte