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Verleihung des Glarner Kulturpreises 2001
an Emil Zopfi
Laudatio
gehalten von Niklaus Hauser am 8. Juni 2001
im Soldenhoff-Saal, Glarus
Lieber Emil Zopfi
Meine sehr verehrten Damen und Herren
"Vor der Wächte auf dem höchsten Punkt der Gletscherebene fiel
der Grat steil nach Osten hin ab. Vorsichtig kletterte ich eine
Felsstufe hinab, wanderte dann über den Schneegrat, der sich wie
ein weis-ses Seil über Abgründe spannt, hinaus zum viereckigen
Schutt- und Schneefeld, stieg einen kurzen Blockgrat hinauf, dann
stand ich auf dem Vrenelisgärtli. Dachte: Da liegst du begraben,
wenn es dich je gegeben hat. Verena, Sagengestalt. Schwester aller
selbstbewussten Frauen dieses Tals. Vorbild all jener, die sich
aufmachen, das Neue zu suchen, das Unmögliche zu wagen, das Verrückte
zu erzwingen, z Tratz. Aller Zeit zum Trotz.
Ich sass auf dem Gipfel, ... Rechts in der Tiefe lag Schwanden,
links das Klöntal und weiter vorn im Tal winzig die Häuser von
Netstal und Glarus. Die Linth glitzerte in der Mittagssonne. Der
Vorderglärnisch ragte tief unten aus dem Grat, eine spitze Galionsfigur.
Ich sass auf dem Vorderdeck eines gewaltigen Schiffes, das nach
Norden segelte, über leichtes Gewölk und Dunst hinweg, hoch über
dem blaugrünen Tal. Ein sanfter Wind wehte mir ins Gesicht. Ich
war unterwegs."
Spricht da einer, der auszog, das Fürchten zu lernen? Der Berge
besteigt, senkrechte Felswände "all free" quert, um uns zu beweisen,
was wir Sofasitzer und Bücherleser für Hasenfüsse sind? Gerade
so ist es nicht bei Emil Zopfi, dem Computeringenieur, Kletterer
und Schriftsteller. Klettern ist für ihn, der ein halbes Dutzend
Bücher über die "Stunden im Fels" geschrieben hat, aus einer anderen
Wurzel erwachsen. In seinem Buch "Sanduhren im Fels" geht er dieser
Warum-Frage nach und beantwortet sie mit einem Zitat von Ludwig
Hohl, einem anderen Glarner Autor, der sich mit den Bergen auseinandergesetzt
hat, folgendermassen: "um dem Gefängnis zu entrinnen" . Und dieses
"Gefängnis" ist die kleine Welt in Gibswil, wo Zopfi aufwuchs,
ist der frühe Unfalltod seiner Mutter, Gefängnis ist die Fabrik,
in der er als Laufbursche arbeitete, dann die lehrstellenlose
Zeit. Es ist letztlich die Angst, die Angst vor dem Zermalmtwerden:
"Sie zertreten mich, sie zermalmen mich." Es ist der Aufbruch
aus der Enge, nicht ins Ausland, wie das viele Schweizer Schriftsteller
vorzogen, sondern in die Höhe, in die Senkrechte. Und die Angst
klettert mit, ist steter Begleiter: "Du hast Angst, dachte er.
Ich habe keine Angst und das ist vielleicht noch schrecklicher.
Ich habe keine Angst vor dem Tod, weil ich Angst vor dem Leben
habe, vor dem Bau jener falschen Welten, jener Illusionswelten,
die mein Beruf sind, und vor ihrem ständigen und unvermeidlichen
Zusammenkrachen." So lässt Zopfi den älteren Alpinisten Johannes
im nächtlichen, durch das Wetter erzwungenen Biwak im Text "Die
Wand der Sila" sinnieren.
Klettern führt also immer wieder und das bewusst gesucht an
Grenzen, an physische und psychische; und dahinter steht die Frage:
Wer bin ich wirklich? Wer bin ich in meiner eigentlichen, "nackten"
Existenz? Und hier, in der ungeschützten Gebirgsnacht, in der
beide der junge Sportkletterer und der ältere Alpinist nicht
wissen, ob sie anderntags den gefährlichen Abstieg im Neuschnee
lebend schaffen werden, erfüllt den Älteren plötzlich nur noch
die Sorge um den Jüngeren. Ist es verfehlt, hier an den Philosophen
Heidegger zu erinnern? "Das Sein des Daseins ist Sorge."
Der Fels ist aber noch mehr nicht nur Spiegel des Lebens, der
den rechten Umgang mit den letzten Dingen lehren kann, sondern
auch ein Zeichensystem, ein semiotisch reiches Feld: "Der Fels
ist für mich wie ein Buch. Diese Bänder, Risse, Gesimse, Kamine,
Dächer sind die Wörter einer ganz besonderen Sprache, sind Text,
der mir unablässig Erinnerungen, Gefühle, Stimmungen, Bilder erzählt.
Eine Sprache, die nur versteht, wer klettert." Von hier zum Schreiben
ist nur ein kleiner und für Emil Zopfi ein zwangsläufiger
Schritt: "Ja, mein Schreiben hat in den Bergen eine Wurzel. Die
Bilder, die Träume, in die ich mich flüchtete, an der Werkbank,
an der Fräsmaschine, später im Labor beim Einlöten von Kabelbäumen
und noch später am Computerbildschirm, meine Träume mussten eine
Gestalt finden. Der körperliche Ausdruck allein, Bewegung, Klettern,
das genügte offenbar nicht. Ich musste schreiben."
Emil Zopfi, der sich 1994 unabhängig machte und der neben seiner
schriftstellerischen Tätigkeit, zusammen mit seiner Frau Christa
Zopfi, eine "Schreibwerkstatt" in Obstalden betreibt führt seine
literarischen Figuren häufig sind es in ihrem Fortschrittsglauben
erschütterte Techniker - immer wieder in Grenzsituationen:
Im Roman "Cooperativa oder Das bessere Leben" ist es eine junge
Schweizerin aus grossbürgerlichem Haus, die in Italien zusammen
mit anderen Aussteigern neue Formen des Zusammenlebens versucht;
in der "Fabrikglocke" ist es das verhängte Zeitkorsett, wogegen
Glarner Stoffdrucker 1837 rebellieren; im "Kilchenstock" ist es
eine dörfliche Gemeinschaft, deren Solidarität in der politischen
Hetze und in der hysterisch werdenden Angst vor einem Bergsturz
auseinander bricht; im 1999 erschienen Roman "Londons letzter
Gast" wird der Systemingenieur Adank in eine Grossstadtgesellschaft
gestellt, die wegen eines Gesamtausfalls der Computernetze kollabiert.
Und gerade in diesem London- und Katastrophenroman wird der Computeringenieur
Adank von einer unerwarteten Situation in die andere geworfen:
Zufälle zuhauf. Es sind so viele, dass eine Rezensentin diese
Anhäufung als "fast strapaziös" bezeichnet hat. Doch in diesem
Roman ist der Zufall Stilprinzip nicht eingesetzt, weil dem
Autor nichts mehr einfällt, d.h. nicht einfällt, wie er die Geschichte
weitertreiben will, sondern hier wird eine Laborsituation eingerichtet,
in der sich einer verhalten muss, handeln muss, ob er will oder
nicht: Da zeigt sich dann, für welche Ethik sich jemand entschieden
hat. Adank ohne sich auf grosse philosophische Entwürfe oder
Systeme zu stützen, handelt human, aus pragmatischen Überlegungen
heraus: Er rettet nicht nur eine Poetenversammlung vor randalierenden
Skinheads, sondern er verhilft auch einem sprachbehinderten Waisenkind
zur Flucht aus der im Chaos versinkenden Londoner Innenstadt.
Mit dieser Tatkraft geht einher ein nicht zu unterdrückendes Krisenbewusstsein:
"Vieles ist ihm (dem Schriftsteller) misslungen früher, heute
scheint ihm vieles zu gelingen, doch traut er diesen Dingen nicht,
keiner Sache, keinem Zustand, keiner Ordnung wird er jemals mehr
vertrauen können. Alles scheint ihm hohl, brüchig." Das ist ein
Zitat aus dem "Eine Nachforschung" untertitelten Buch "Lebensgefährlich
verletzt". Und in dieser "zerfallenden Welt" stellt sich letztlich
die Grundfrage: Wie lässt sich das Leben bestehen, ohne dass man
vor sich selbst das Gesicht verliert? Nur indem man Widerstand
leistet gegen wie immer geartete, vorgegebene wirtschaftliche,
politische und soziale Schemata, die dem Menschen keine Wahl lassen
wollen. Und obwohl Zopfi eigentlich von der Position des Werktätigen
ausging seine ersten schriftstellerischen Versuche machte Zopfi
in der "Werkstatt schreibender Arbeiter Zürich" und eigentlich
die Sicht der Arbeiterbewegung zu erwarten wäre, steht bei ihm
doch immer die Entscheidung des Individuums im Zentrum, die Entscheidung
für das, was im Moment der Krise zu tun ist: Im Roman "Jede Minute
kostet 33 Franken" ist es der Computer-Operator Kopp, der den
gewerkschaftlichen Widerstand organisieren will, scheitert und
deshalb Beruf und Schweiz hinter sich lässt; in der "Fabrikglocke"
der mutige Redakteur, der seine technischen Kenntnisse den Streikenden
zur Verfügung stellt; im "Kilchenstock" der Widerstand des Pfarrers
gegen Verhetzung und Hysterie. Zopfi rekurriert hier unausgesprochen
auf das an Albert Camus erinnernde voraussetzungslose Mitmenschliche:
"Ich empöre mich (d.h.: ich lehne mich auf gegen Unterdrückung),
also sind wir." Dieses Aufbegehren ist nun aber grundiert mit
einer in vielen Texten Zopfis aufscheinenden Traurigkeit und Melancholie,
die letztlich ihren Ursprung auch in der Entfremdung des Menschen
in der Arbeitswelt hat, was eindrücklich im London-Roman geschildert
ist.
Und was hält Emil Zopfi dagegen? Das Schreiben. Ein Bild entsteht,
"es entsteht durch Worte, auf dem Papier, es ist da, gewinnt eine
eigene Wirklichkeit, die einem niemand wegnehmen kann. Kein Unglück
kann es auslöschen. So hat man sich selber einen Halt geschaffen.
Einen Sinn. Sich einen Sinn schaffen durch das Schreiben." Und
dieses Schreiben ist auch eine Bewegung gegen seinen ehemaligen
Beruf als Computeringenieur. "Durch das Schreiben habe ich mich
von der rationalen, ordnungsliebenden Lebensart meines Vaters
entfernt, habe mich der anarchischen Lebensart meiner Mutter genähert,
die ihre Wurzel in der magischen Welt der Bergler hat."
Lieber Emil
Ich gratuliere dir sehr herzlich zur Verleihung des Glarner Kulturpreises
für dein thematisch weitgespanntes und vielfältiges literarisches
Werk, das national und international grosse Anerkennung gefunden
hat. Dir ist es gelungen, drei ganz verschiedene Welten die
Berge, das Schreiben, die Informatik zu einer originellen neuen
Welt zu verbinden. Wir freuen uns auf dein weiteres Wirken!
Meine Damen und Herren
Lassen Sie sich weiterhin lesend in die Stein-, Mikrochip- und
Seelenlandschaften von Emil Zopfi entführen, sitzend "auf dem
Vorderdeck eines gewaltigen Schiffes, das nach Norden segelt(e),
über leichtes Gewölk und Dunst hinweg, hoch über dem blaugrünen
Tal."
[ Copyright © Emil Zopfi ]
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