Rede zur Diplomfeier TS Informatik, 20. 6. 95, Chur

Informatik ­ Das Paradies in den Köpfen

Liebe Diplomandinnen, Liebe Diplomanden

Vor fünfzig, vor hundert und mehr Jahren wanderten Menschen aus den Alpentälern aus, aus dem Bündnerland zum Beispiel, aus dem Glarnerland, nach Nord- und Südamerika, sie suchten eine neue Lebensgrundlage, eine bessere Welt, eine Existenz und viele von ihnen hatten, wie Eveline Hasler in ihrem Roman «Ibicaba» schreibt, «das Paradies in den Köpfen.» Sie suchten das bessere Leben.

Auch Sie werden jetzt auswandern, mit dem Diplom in der Tasche, geografisch vielleicht, vielleicht auch nach Übersee oder zumindest ins gelobte Unterland, vielleicht auch nur an eine neue Stelle oder in eine neue Stellung. Und vielleicht bleibt auch äusserlich alles beim Alten, die Wandlung hat in ihrem Innern stattgefunden. Doch gewiss tragen auch Sie, nehme ich an, eine Art Paradies im Kopf mit sich, jedenfalls Pläne und Projekte, die mit neuer Technologie zu tun haben, mit der neuen Welt, mit Informatik und Datennetzen, mit Software und moderner Kommunikationstechnik. Denn um ein Studium durchzustehen, all die Lektionen, Aufgaben Prüfungen und Arbeiten, braucht es eine Vision. Vielleicht wollen Sie die Welt verändern, vielleicht eine tolle Maschine bauen, ein geniales Programm schreiben oder auch nur mehr Geld verdienen. Wobei ich hoffe, dass es schon eher das erste ist, als das letzte.

Jedenfalls gratuliere ich Ihnen, dass Sie es geschafft haben.

Wer in der Technik arbeitet, baut mit an der neuen Welt, am Paradies, das zuerst im Kopf steckt, in der Idee, im Konzept, im Struktogramm, das dann am Bildschirm zum Projekt wird, zum Programm. Zur Lösung, zu der wir dann das Problem suchen, wie ein Spruch lautet, der in manchem Büro an der Wand hängt.
Probleme, die der Lösung harren, haben wir allerdings genug. Wer Technik macht, und das unterstelle ich Ihnen, will die Welt besser machen, automatischer, leichter, pflegeleichter, sicherer, angenehmer, vielleicht sogar friedlicher. Oder zumindest benutzerfreundlicher, wie man heute auch sagt. Selbst wer für die Rüstungstechnik arbeitet, will ja nur das Gute, sagt er zumindest, den Frieden sichern oder die Autonomie oder die Grenzen des Landes. Und wer für die Chemie arbeitet will ja nicht die Welt vergiften, sondern Krankheiten heilen oder die Produktivität der Landwirtschaft verbessern. Ich meine, dass wir Techniker ­ ich schliesse mich jetzt ein ­ im Grunde genommen das Gute wollen oder gar das Bessere oder wenistens das Bestehende verbessern.

Wer also einen technischen Beruf ergreift, tut damit gleichzeitig kund, dass er die Welt für verbesserungswürdig hält, zumindest den technisch machbaren Teil der Welt. Wir wissen doch alle: Was da heute an Technik klappert und pfeift, was an Software über den Ladentisch rollt und durch die Netze fegt, steckt noch voller Fehler, voller Unzulänglichkeiten und Unverständlichkeit. Von Benutzerfreundlichkeit keine Spur. Ich denke jetzt an die elektrische Heizung in meinen Badezimmer. Sie zu programmieren fällt selbst mir, einem diplomierten Elektroingenieur HTL, schwer, wie soll das denn ein technischer Laie schaffen. Oder mein Textprogramm: Fehler, Abstürze, Datenverlust sind Alltag. Oder mein Computer, manchmal startet er, manchmal platzt die Bombe auf dem Bildschirm. Es gibt keine Erklärung dafür. Wahrlich, die technische Welt ist verbesserungswürdig. Also packen Sie?s an! Sie sind die Zukunft, die Hoffnung. Einmal wird alles perfekt funktionieren. Helfen Sie mit!

Nun musste ich mir vor fast dreissig Jahren als Diplomand eine ähnliche Rede anhören wie Sie jetzt. Damals war ich noch Teil der Hoffnung, der Zukunft. Ich hatte als Diplomarbeit eine Maschinensteuerung mit einem Quecksilberdampfgleichrichter gebaut, eine Glasflasche, einen Meter hoch, ich hatte auch schon etwas von Transistoren gehört und Elektronenröhren ausgemessen. Lachen Sie mich jetzt nicht aus! Wir waren High-Tech-Leute, die Wirtschaft riss sich um uns. Das war vielleicht noch anders als heute. Eine Stelle zu finden war kein Problem, obwohl in den Entwicklungslabors bereits die integrierte Schaltungen auftauchten und die ersten mit Lochkarten oder Lochstreifen programmierten Computer. Ausbildung, das kann nicht anders sein, ist nie auf dem letzten Stand der Technik. Da ist weiter nicht schlimm, wichtig ist ja, dass man das Lernen gelernt hat. Das eigentliche Lernen begann auch für mich erst nach der Schule, in der Praxis, am Problem. Nach einem Jahr programmierte ich einen der damals modernsten Computer der Welt, er besass gerade 4 Kilobyte Hauptspeicher, Disketten waren noch nicht erfunden. Es war schwierig, mit dem Apparat etwas Vernünftiges anzufangen, eine Programmübersetzung konnte schon mal einen halben Tag dauern. Programmieren war vor allem Kopfarbeit. Das Paradies im Kopf schrumpfte zu Bit und Byte zusammen.

Das Paradies auf Erden dagegen liess noch ein bisschen auf sich warten. Aber schon waren neue Systeme und neue Software angekündigt. Später sprach man dann stets von der nächsten Version, die den endgültigen Durchbruch bringen würde. Also quälte man sich weiter, mit Mitteln, die eben gerade noch nicht so weit waren, aber morgen, in einer Woche, im Herbst würde man sie haben. Morgen würde es Disketten geben, grössere Speicher, kleinere Computer, Sprach- und Schrifterkennung, neuronale Netze, künstliche Intelligenz, Modems für die Datenpübertragung und Programme, die das Lernen kinderleicht und das Übersetzen von Sprachen per Knopfdruck möglich machten. Für morgen war auch immer die nächste Softwareversion angekündigt, schneller und mit weniger Fehlern behaftet ­ wenn es dann oft auch gerade umgekehrt war.

Trotzdem hat die Technik Fortschritte gemacht. Ich muss sagen, ich beneide Sie um die Anlagen und Computer, die Ihnen heute zur Verfügung stehen, um die Datenbanken, um die Kommunikationsnetze. Was hätten wir geleistet damals, denke ich manchmal, wenn eine Programmübersetzung nur eine Sekunde statt einen halben Tag gedauert hätte? Ich könnte mir auch an die Brust klopfen. Was haben wir geleistet, trotz der bescheidenen Mittel, was für geniale Programme haben wir im Kopf entwickelt, fast fehlerfrei, und in 4 Kilobyte Speicherplatz gezwängt, und sie liefen und steuerten Maschinen und Kraftwerke und chemische Fabriken. Wir hatten nicht nur das Paradies im Kopf, sondern unseren Assemblercode. Manchmal traten Fehler auf, Sie wissen ja. Manchmal ging die Bombe nicht nur auf dem Bildschirm hoch, sondern in einem Atomkraftwerk oder einer chemischen Fabrik oder in einer Abwasserreinigungsanlage. Meistens geschah jedoch nichts Ernsthaftes, zum Glück. Ich würde gerne einmal mit den Mitteln von heute die Aufgaben von gestern nochmals lösen, ein Kinderspiel müsste das sein. Das Programm, an dem ich 4 Monate schrieb, hätte ich in zwei Tagen fertig.

Bloss: Mit den Mitteln sind auch die Aufgaben gewachsen, die Welt ist kompliziert geworden, die Werkzeuge komplex. Das Paradies sieht nicht mehr so einfach aus, wie wir es uns damals vorstellten. Und auch unser Paradies war schon viel komplizierter ausgestattet als jenes, zu dem sich unsere Vorfahren aufgemacht hatten, mit Pferdepost und Segelschiff. Wir müssen auch nicht mehr auswandern, um auf der ganzen Welt gewesen zu sein. Ein Internet-Anschluss genügt, und wir sind im globalen Dorf zuhause. Ich beneide Sie um die Mittel, die Ihnen zur Verfügung stehen, heute und morgen, um die Aufgaben, die vor Ihnen liegen, beneide ich Sie allerdings nicht. Vielleicht wachsen unsere Probleme sogar schneller als die Mittel zu ihrer Lösung.

Die wenigsten unserer Vorfahren, die Bündner und Glarner, die auswanderten, ausgestattet mit wenig Geld und viel Mut und mit einer Vision vom Paradies im Kopf, erreichten ihr Ziel. Und so werden auch Sie, das klingt jetzt hart, niemals am Ziel sein. Einen technischen Beruf wählen heisst, sich auf den Weg machen. Heisst, stets unterwegs sein, geografisch und geistig, stets das Gute wollen und das Bessere anstreben. Heisst, bereit sein, die geniale Idee von heute morgen schon wieder zum alten Eisen zu werfen. Einen technischen Beruf wählen heisst, das Gelernte von Gestern heute schon wieder zu vergessen.

Sie dürfen also auch gleich wieder vergessen, was ich Ihnen erzählt haben. Heute sind Sie am Ziel. Morgen wieder am Anfang. Tragen Sie Sorge zum Paradies in Ihrem Kopf. Sie werden es brauchen, auch wenn Sie es nie erreichen.

 

[ Copyright © Emil Zopfi ]