Eine Kindergeschichte, exklusiv auf dem Internet.
(Zeichnung von Nicolas d'Aujourd'hui aus dem Buch: Ich bin die
stärkste Maus derWelt. Nord-Süd Verlag.)
Im Bahnhof der grossen Stadt lebte eine Maus. Sie war klein und
braun, hatte einen langen Schwanz und runde Ohren und einen hellen
Fleck auf der Brust. Sie hiess Esmeralda. Denn Mäuse, das wisst
Ihr vielleicht, haben schöne Namen, weil sie meist an hässlichen
Orten leben.
Esmeralda wohnte in der riesigen Bahnhofshalle in einer winzigen
Höhle unter einer Eisenbahnschiene. Ihre Wohnung hatte sie ausgepolstert
mit Fetzen von Papiertaschentüchern und Kaugummipapieren und andern
Dingen, welche die Menschen wegwarfen. Sie warfen auch Apfelputzen
weg und Wurstzipfel und Brotresten. So hatte Esmeralda stets genug
zu fressen und ein weiches Nest zum Schlafen. Von Zeit zu Zeit
fuhr ein Zug in den Bahnhof, ein mächtiges, fauchendes Ungetüm,
das die Schienen und den Bahnsteig zum Erzittern brachte. Wenn
der Zug anhielt, dann sprühten die Funken, und die Bremsen quietschten,
als ob hunderttausend Mäuse piepsen würden. Esmeralda hatte sich
an den Lärm gewöhnt. Sie freute sich auf den Zug, denn nun stiegen
Menschen aus und ein, mit Koffern, Taschen, Schachteln und Körben.
Manchmal fiel eine Brotrinde, ein Stück Schokolade oder sogar
ein halber Hamburger auf die Steine neben dem Geleise. Esmeralda
schaute zu, wie die Menschen hastig über den Bahnsteig schritten
und rannten und stiefelten und stolperten und stöckelten. Sie
kannte sie an ihren Schuhen und an ihren Schritten. Am Morgen
kamen die Eiligen mit blankgeputzen schwarzen Halbschuhen, dann
Schüler mit ausgelatschten Turnschuhen, Damen mit flachen Absätzen
und Einkaufstaschen. Am Nachmittag schritten Rentner mit dicken
Gummisohlen bedächtig über den Bahnsteig, manche mit einem Krückenstock,
und am Abend glitzerten goldene oder silberne Stöckelschuhe mit
Bleistiftabsätzen vorbei. Wenn es still wurde, huschte Esmeralda
zwischen den Steinen hin und her und sammelte ihre Mahlzeiten
ein und alle andern Dinge, die sie für ihre Wohnung brauchen konnte:
Einen Wattebausch als weiches Kissen, einen Fetzen von einem Plastiksack
als Nachtvorhang, ein Streichholz zum Nagen, eine vertrocknete
Rose als Wandschmuck. Esmeralda war nämlich sehr sauber und ordentlich
wie alle Mäuse, und ihre Wohnung war immer aufgeräumt.
Nirgends auf der Welt, dachte sie, ist das Mäuseleben schöner
als im grossen Bahnhof in der Stadt zwischen den Schienen.
Eines Tages stand eine Dame auf dem Bahnsteig. An der Hand hielt
sie ein Mädchen, das Mädchen hatte neben sich einen Korb und im
Korb lag eine grosse rote Katze. Sie warteten auf den Zug. Die
Katze hielt ein Auge geschlossen, mit dem andern schaute sie auf
die Schienen und die Steine. Dann entdeckte sie Esmeraldas Wohnung.
Esmeralda schob den Nachtvorhang mit der Nase beiseite und blickte
der Katze ins Auge. Die streckte sich, machte einen Buckel, schnupperte
und öffnete auch das andere Auge. Dann fragte sie: "Sag mal, was
bist denn du für eine komische Maus?"
Esmeralda streckte ihren Kopf aus der Höhle und sagte: "Ich bin
eine ganz gewöhnliche Maus. Ich wohne unter der Eisenbahnschiene
und heisse Esmeralda. Gibt es denn auch andere Mäuse?"
"Ich habe schon von Waldmäusen und Wiesenmäusen und Wüstenmäusen
und Hausmäusen gehört", brummte die Katze. "Von grauen, braunen
und weissen Mäusen. Mit deinem langen Schwanz und den runden Ohren
könntest du eine Waldmaus sein, aber..." Sie wiegte ihren Kopf,
und ihre langen Schnurrbarthaare zitterten.
"Ich kenne weder Wald noch Wiese noch Wüste noch Haus", sagte
Esmeralda. "Ich habe immer nur in diesem Bahnhof unter der Schiene
gelebt. Wie schon meine Mutter, meine Grossmutter, meine Urgrossmutter."
"Dann bist du wohl eine Schienenmaus", stellte die Katze fest
und zeigte ihre spitzen Zähne. "Ich, nur um das klarzustellen,
ich heisse Viktor."
"Dann bist du also ein Kater. Ich fürchtete schon, du seist ein
kleiner Löwe. Du hast einen so grimmigen Blick."
"Ich bin der Kater Viktor. Um ganz genau zu sein: Ich heisse Viktor
von Nesselbach, denn ich bin von edlem Blut. Meine Herrin ist
das Mädchen Eva. Die Dame ist ihre Mutter."
"Ich habe weder Herrin noch Herr ", sagte Esmeralda, die Schienenmaus.
"Ich bin meine eigene Meisterin."
Der Kater knurrte. "Und wer füttert dich denn? Wer bringt dir
Wasser?"
"Ich suche mein Fressen selbst. Die Menschen werfen viel weg.
Und trinken kann ich genug, wenn es regnet."
"Du frisst also Abfall? Du trinkst aus den Pfützen? Bäh, pfui!
Und wer striegelt und putzt dich? Du schmutziges Biest! Wer pflegt
dein Fell?"
"Ich putze mich am Morgen und am Abend, ich bin nicht schmutzig,
und meine Wohnung ist ordentlich aufgeräumt. Möchtest Du einmal
hereinschauen? Ich habe gerade noch einen Zipfel Wienerwurst vorrätig
und die knusprige Spitze eines Butterhörnchens. Wär das was?"
"Ich mag keine Wurst, und ich mag keine Butterhörnchen", log Viktor,
denn der Speichel floss ihm im Mund zusammen. "Ich mag nur die
feinen Dosen mit Kattefort, die mir die Dame auftischt, jeden
Morgen und jeden Abend. Hast Du einen Fernseher?"
"Wozu brauche ich einen Fernseher?" sagte Esmeralda. "Ich habe
genug Unterhaltung. Ich beobachte die Menschen, wie sie kommen
und gehen."
"Wenn du einen Fernseher hättest, könntest du sehen, was für Delikatessen
mir meine Dame serviert. Dazu nimmt sie eine goldene Gabel."
Viktor streckte eine Tatze durch das Gitter, mit dem der Korb
verschlossen war, zeigte seine Krallen und fragte: "Hast du eigentlich
keine Angst vor mir?"
Esmeralda lachte. "Warum sollte ich Angst vor dir haben? Du bist
ja eingesperrt."
"Und wenn ich frei wäre?"
Esmeralda schaute auf die Krallen des Katers. Die waren lang und
spitz und glänzten. Seine Augen blitzten wie feurige Kugeln. Sein
dickes Fell sträubte sich, und um den Hals hatte er eine Mähne
wie ein Löwe. Er sah gefährlich aus. Doch plötzlich zuckte er
zusammen. Ein Zug fuhr ein, es quietschte und dröhnte, und der
Boden zitterte. Viktor duckte sich vor Furcht in den hintersten
Winkel seines Korbs.
"Ich glaube, ich hätte keine Angst vor dir", rief Esmeralda, doch
der rote Kater hörte ihre feine Stimme nicht mehr. Das Mädchen
ergriff den Henkel des Korbs, gab der Mutter die Hand und stieg
in den Zug.
Viele Wochen später wartete die Dame mit dem Mädchen wieder auf
den Zug und gerade dort, wo Esmeralda ihre Wohnung hatte unter
der Schiene, stand der Korb mit dem Kater Viktor. Er war frisch
gewaschen und gefönt und trug ein Halsband. Sein Fell glänzte,
und seine kugelrunden gelben Augen leuchteten vergnügt. Esmeralda
lugte unter der Schiene hervor und schnupperte. Ah, wie der Kater
duftete. Sie huschte über die Steine, kletterte flink eine Ritze
hinauf bis zum Rand des Bahnsteigs. Riesengross waren nun die
Schuhe der Menschen, die dort warteten. Und noch viel grösser
der rote Kater, der sein Fell leckte. Als er Esmeralda sah, erschrak
er, duckte sich und sein Fell sträubte sich.
"Erschrick doch nicht", piepste Esmeralda, "ich bin doch nur eine
Maus."
"Die Schienenmaus, wahrhaftig!" rief Viktor aus. "Du hast mich
ja fast zutode erschreckt!"
"Das tut mir aber leid", sagte Esmeralda. "Meistens ist es ja
umgekehrt. Ihr Katzen erschreckt uns Mäuse. Aber hier im Bahnhof
gibt es zum Glück keine Katzen. Sie haben Angst vor den Zügen
und den vielen Menschen und dem Lärm."
"Ich würde niemals einer Maus auch nur ein Haar krümmen", sagte
Viktor. "Nur die ungezogenen Bauernkatzen fressen Mäuse."
"Da bin ich aber beruhigt", sagte Esmeralda. "Was für eine Katze
bist denn du?"
"Ich bin eine rote Perserkatze", sagte Viktor und warf sich in
die Brust. "Und jetzt fahren wir nach Paris zur grossen Katzenausstellung,
und dort wird Viktor von Nesselbach bestimmt den ersten Preis
gewinnen. Hast du gesehen, wie sie mich schön gemacht haben, meine
Dame und das Mädchen. Sie haben mich gebadet und gefönt und gestriegelt
und gekämmt, haben mir die Krallen geschnitten und poliert und
die Augen geputzt."
"Paris...", piepste Esmeralda. "Oh, da möchte ich gerade mitkommen.
In Paris soll es grosse Bahnhöfe geben und viele Mäuse und zartes
weisses Brot mit feiner Kruste. Warst du schon oft in Paris?"
"Oh, ich war schon in Paris, in London, in Berlin und in Moskau
und in Rom. Ich habe schon viele Preise gewonnen und bin sogar
im Fernsehen aufgetreten", schnurrte der Kater.
"In was für einer Sendung denn?"
"In einer Reklame für Katzenfutter. Man sendet sie auf der ganzen
Welt."
"Aber sag mal", wandte Esmeralda ein, "dieser Zug fährt gar nicht
nach Paris, glaube ich."
"Wieso soll dieser Zug nicht nach Paris fahren, du dumme Schienenmaus",
gab Viktor beleidigt zurück. "Wieso, glaubst du, haben sie mir
das schöne Halsband angezogen, wenn es nicht an die Katzenausstellung
geht?"
"Die Leute, die nach Paris fahren, haben viele Koffer und Reisetaschen
bei sich, und die Jungen tragen pralle Rucksäcke", sagte Esmeralda.
"Die hier tragen nur Einkaufstaschen und Aktenkoffer mit und die
Kinder ihre Schulmappen."
Der Kater Viktor schaute sich nach allen Seiten um, rümpfte seine
flache Nase, und sein flaches Gesicht bekam kummervolle Falten.
"Eine Maus!" gellte plötzlich eine Stimme über den Bahnsteig.
Esmeralda huschte wie der Blitz unter ihre Schiene und zog den
Nachtvorhang zu.
"Hast du die Maus gesehen, Viktor?" rief das Mädchen Eva aufgeregt.
"Hier gibt es keine Mäuse!" behauptete ihre Mutter. "Die Bahnwärter
fangen sie alle ein mit ihren Fallen. Und sie streuen Mäusegift."
"Ich hab aber eine Maus gesehen, ganz bestimmt", sagte Eva. "Sie
war klein und braun und hatte einen langen Schwanz. Gell Viktor,
du hast sie auch gesehen."
Viktor kniff ein Auge zu und blinzelte mit dem andern durchs Gitter.
"Gell Viki, du wolltest die Maus fressen. Mh, lecker, lecker,
gell."
Viktor gähnte und leckte sich das Maul.
"Er hat die Maus gesehen. Bestimmt wollte er sie fressen."
Viktor streckte sich, legte den Kopf zwischen die Pfoten, schloss
beide Augen und dachte: "Ach, die dummen Menschen!"
Kurz darauf bekam Esmeralda Besuch von einem Floh. Mit einem Sprung
landete er mitten in ihrer Wohnung, entschuldigte sich und stellte
sich vor. Er hiess Max. Ja, auch Flöhe haben Namen, zwar nicht
so schön klingende wie die Mäuse. Flöhe heissen Flux, Flix, Rex
oder Tex. Oder eben Max. Immer haben sie ein x am Schluss. Warum?
Das weiss ich auch nicht. Vielleicht weil sie so weite Sprünge
machen und sich dabei ihre langen Sprungbeine mit den kurzen Vorderbeinen
kreuzen, dass es aussieht wie ein x.
Und noch etwas: Flöhe sind gescheit. Max zum Beispiel konnte sogar
lesen. Er hatte lange Zeit auf dem Kopf eines Schülers gelebt.
Während des Unterrichts hatte er gut aufgepasst, viel besser als
der Schüler selber. So hatte Max lesen gelernt und sogar schreiben.
Er schrieb mit dem vordersten rechten seiner sechs Beine, doch
die Buchstaben waren so winzig, dass sie nicht einmal Esmeralda
lesen konnte. Max war so klein und schmal, dass er durch Esmeraldas
Fell streifen konnte. Mit den feinen Klauen an seinen Füssen hielt
er sich an den Haaren fest.
Sein liebster Platz war dicht hinter ihrem Ohr. Dort war es warm
und weich. Max war rundum mit Borsten und Stachelkämmen besetzt,
mit denen hakte er sich fest, damit er nicht aus ihrem Fell fiel.
Dann erzählte er von all den vielen Dinge, die er in seinem langen
Leben unter den Menschen schon erfahren hatte. Er erzählte Geschichten
von Menschenflöhen, Rattenflöhen, Sandflöhen, Wasserflöhen, Schneeflöhen
und Katzenflöhen. Esmeralda hörte zu, staunte und fragte viel.
Und wenn er etwas ganz besonders Interessantes erzählt hatte,
durfte er sie beissen und ein bisschen von ihrem Blut lecken.
Das tat ihr nicht weh, und sie lachte nur.
Eines Tages fragte Esmeralda: "Warst du auch schon in Paris, Max?"
"In Paris? Ach nein, wie kommst du auf Paris?"
"Mein Freund, der Kater Viktor, hat mir erzählt, er fahre nach
Paris zur grossen Katzenausstellung."
"Oh, nach Paris möchte ich auch", sagte Max. "Es soll dort einen
Herrn Otawa geben, und der hat einen Flohzirkus. Dort könnte ich
auftreten."
"Und ich möchte nach Paris, weil es dort so weiches weisses Brot
gibt mit feiner knuspriger Rinde", schwärmte Esmeralda.
"Im Flohzirkus würde ich bestimmt ein berühmter Floh", sagte Max.
"Ich würde auf ein Reiskorn schöne Geschichten schreiben."
"Die könnte ja niemand lesen! Die Buchstaben wären viel zu klein."
"Doch, die Zuschauer im Flohzirkus bekommen alle ein Vergrösserungsglas.
Sonst können sie die Vorstellung gar nicht sehen."
"Woher weisst du das alles?"
"Eine Freundin hat mir das erzählt. Ihre Grossmutter ist vor vielen
Jahren mit dem Flohzirkus des Herrn Otawa durch die Welt gezogen.
Sie musste in einem farbigen Kostüm tanzen, eine winzige Kutsche
ziehen und mit Holundermarkkügelchen jonglieren. Zur Belohnung
durfte sie Herrn Otawa in den Arm beissen und von seinem Blut
lecken."
"Und dann?"
"Dann hat sie in Paris einen Floh kennengelernt und ist mit ihm
durchgebrannt." Max erzählte Esmeralda die Geschichte der Freundin
seiner Grossmutter, die in Paris ein rauschendes Hochzeitsfest
gefeiert hatte und dann dreitausend Kinder bekam. Jedes der Kinder
bekam wieder dreitausend Kinder. Wieviel waren das wohl dann?
Max rechnete es im Kopf aus und Esmeralds staunte, wie gescheit
der Floh war.
"Ach, Paris", seufzte sie mit verträumter Stimme, "wollen wir
nicht zusammen nach Paris reisen? Dort würde ich vielleicht Freundinnen
und Freunde finden. Vielleicht sogar..." Denn Esmeralda lebte
schon lange allein unter der Schiene.
Da fuhr dröhnend und fauchend ein langer Zug in den Bahnhof, die
Schiene über ihnen erzitterte, die Bremsen quietschten.
"Es ist der Zug nach Paris", piepste Esmeralda. Die Menschen,
die einstiegen, hatten Taschen, Koffer, Rucksäcke und Regenschirme
dabei. "Ach, wenn wir doch auch einsteigen könnten." Doch sie
wusste, dass die Treppen, die in die Eisenbahnwagen führten, für
sie unerreichbar hoch waren.
Einmal schritten zwei Männer mit schweren Stiefeln und blauen
Überkleidern über den Bahnsteig. Sie stellten einen Kübel mit
Kleister auf den Boden und entfalteten ein grosses Plakat. Einer
der Männer steckte einen Schrupper in den Kübel und bestrich die
Plakatwand am Rand des Bahnsteigs mit Kleister, der andere klebte
das Plakat auf. Mit dem Schrupper strichen sie es glatt. Neugierig
schaute ihnen Esmeralda zu. Plötzlich rief sie: "Das ist ja Viktor!"
Auf dem Plakat war riesengross der Kopf des roten Perserkaters
abgebildet. Vor ihm stand eine Büchse mit feinem Fleisch. Er schleckte
sich das Maul. Seine Augen blitzten.
"Gewiss hat Viktor von Asselbauch den ersten Preis der Katzenausstellung
gewonnen", sagte Esmeralda. Sie freute sich, dass sie einen so
berühmten Freund hatte. "Was steht auf dem Plakat?" fragte sie
Max.
Max las: "Kattefort macht Katzen stark."
"Was heisst das?"
"Ach, das ist nur Reklame für Katzenfutter."
"Wie im Fernsehen?"
"Hast du schon Fernsehen gesehen?"
"Nein, aber Viktor hat mir erzählt, er trete auch im Fernsehen
auf. In einer Reklame für Katzenfutter, die auf der ganzen Welt
gezeigt wird."
"Ach du, immer mit deinem Viktor."
"Die Katze auf dem Plakat ist Viktor, ganz bestimmt."
"Vielleicht war er gar nicht an der Katzenausstellung, sondern
nur beim Reklamefotografen", meinte der Floh. "dein eingebildeter
Viktor von Asselbauch."
"Doch, er war in Paris!"
"Nein, das glaube ich nicht."
"Du ewiger Besserwisser!"
"Pass auf, ich beisse dich!"
So stritten Esmeralda und Max, bis ein Zug in den Bahnhof einfuhr.
Da versöhnten sie sich und begannen Pläne zu schmieden, wie sie
es anstellen könnten, um wirklich in den Zug nach Paris zu gelangen
und ans Ziel ihrer Träume.
"Wenn jemand ein Ziel hat", sagte Max, "und es sich ganz sehnlichst
wünscht, dann wird er es auch erreichen."
"So, und wie soll ich in den Zug steigen? Die Treppe ist viel
zu hoch. Ich kann doch nicht fliegen. Und auch nicht springen
wie ein Floh."
"Ich habe eine Idee", sagte Max. "Wenn Viktor das nächste Mal
nach Paris reist, steigen wir zu ihm in den Korb."
"Und wenn er mich frisst?"
Max lachte. "Ich dachte, Viktor sei dein dicker Freund."
"Das ist er."
"Dann frisst er dich nicht. Oder bist du doch nicht so sicher?"
Esmeralda betrachtete die Katze auf dem Plakat. Ihre Zunge war
rot und die Zähne so spitz. Plötzlich war sie nicht mehr sicher,
ob Viktor wirklich so harmos war, wie er behauptet hatte.
.
Jeden Morgen nach dem Aufstehen und der Morgentoilette guckte
Esmeralda hinaus und sah direkt in die gelben Augen von Viktor.
Sie hatten Schlitze und blitzten gefährlich. Esmeralda war froh,
dass es nur das Plakat war und nicht der Kater selbst. Eines Morgens
aber war eines der beiden Augen zugekniffen, das andere zwinkerte.
Der Korb mit Viktor stand dicht am Rand des Bahnsteigs, so dass
Esmeralda ein wenig erschrak.
"Guten Morgen du schöne Schienenmaus", rief Viktor leutselig.
"Lange nicht gesehen. Wie geht's wie steht's?"
"Freut mich, mein lieber Viktor von Asselbauch", hauchte Esmeralda.
"Ich bin noch an meiner Morgentoilette. Bitte entschuldige, wenn
ich noch nicht ordentlich gekämmt bin."
"Viktor von Nesselbach, wenn ich bitten darf", knurrte der Kater
und zog Luft durch seine Nase. "Im übrigen ist bei Mäusen das
Aussehen wohl nicht so wichtig wie bei uns edlen Rassekatzen.
Schon mal was von einer Mäuseausstellung gehört?"
"Gewiss nicht. Wir müssen ja auch nicht Reklame machen für unser
Futter."
"Wie meinst du das?"
"Das bist doch du auf dem Plakat. Ich sehe dich nämlich jeden
Tag."
"Ach so?" Viktor hielt den Kopf schief und warf sich in die Brust.
"Weisst du, wenn man ein Star ist, hat man Verpflichtungen. Zudem
bringt Reklame gutes Geld. Wovon soll man sonst leben? Etwa von
Abfällen wie ihr Mäuse?"
Esmeralda ging nicht auf den Seitenhieb ein. "Wo geht denn heute
die Reise hin?" fragte sie. "Wieder nach Paris?"
"Nach Paris, gewiss. Habe einen Auftritt im französischen Fernsehen."
"Kattefort macht Katzen stark?"
"Oh, sind alle Schienenmäuse so gut informiert?"
"Ich denke schon", flötete Esmeralda und streckte ihre feine Nase
in die Luft. "Wie wär's, wenn wir dich begleiten würden?"
"Wir?" Viktor drückte seine flache Nase ans Gitter des Korbs und
riss seine Augen auf. "Hört, hört. Versteckt sich etwa noch ein
Mäuserich in deiner Wohnung?"
"Mein Freund Max, der Floh, will auch nach Paris.
"Was will denn ein Floh in Paris? Etwa auf den grossen Flohmarkt?"
"Er hat ein Engagement im Flohzirkus des Herrn Otawa."
"Wo ist denn das Biest?"
Max kletterte auf Esmeraldas Kopf und winkte mit den Fühlern.
"Hier bin ich? Kannst du mich sehen?"
"Nicht so genau. Meine Augen, weisst du, sind nicht mehr die besten."
"Max ist sehr gescheit. Er sieht noch gefährlicher aus als du,
mit seinen Klauen und Stachelkämmen und Fühlern und dem dicken
Panzer. Er könnte uns sehr nützlich sein in der grossen Stadt
Paris."
"Wenn du meinst. Dann beeilt euch." Viktor dämpfte seine Stimme,
damit ihn Eva und ihre Mutter nicht hören konnten. Sie standen
wie immer neben dem Korb und warteten auf den Zug. "Steigt ein,
ihr zwei. Passt nur auf, dass es meine Meisterin und die Dame
nicht bemerken. Die mögen Mäuse nämlich nicht ausstehen. Und Flöhe
schon gar nicht."
"Und du? Magst du mich?" fragte Esmeralda, bevor sie durch das
Gitter in den Korb schlüpfte.
"Ob ich dich mag?" Viktor wurde ein wenig verlegen. Wenn er nicht
ein roter Perser gewesen wäre, wäre er vielleicht sogar rot geworden.
Dann knurrte er: "Natürlich mag ich dich. Sonst würde ich dich
doch nicht in meinen Korb einladen."
"Vielleicht willst du mich nur fressen..."
"Sagte ich nicht schon, dass ich von edlem Stamm bin?" knurrte
Viktor beleidigt. "Viktor von Nesselbach ist doch keine ordinäre
Bauernkatze, die Mäuse frisst."
Eva drehte sich um und ergriff den Katzenkorb am Henkel. Doch
gleich liess sie ihn fahren. "Aua! Mich hat etwas gebissen!" Sie
begann sich am Rücken zu kratzen.
"Wo denn?" fragte die Dame.
"Hier, ja hier. Und hier. Und hier auch."
Sie kratzte sich heftig, am Rücken, dann am Bauch, dann an der
Schulter. Und dann kratzte sich auch die Dame und die beiden kratzten
sich noch, als sie in den Zug stiegen. Eva merkte nicht, dass
der Katzenkorb ein bisschen schwerer war als sonst. Hinter dem
schlafenden Kater Viktor versteckte sich Esmeralda, und hinter
ihrem Ohr hatte sich Max, der Floh, in ihr Fell gehakt und flüsterte:
"Oh, war das lecker, das Mädchen in den Bauch, die Schulter und
den Rücken zu beissen. Und die Dame erst, die habe ich..."
"Psssst", flüsterte Esmeralda. "Sie hören dich."
Doch Max lachte nur. "Wer hört denn schon einen Floh husten?"
Die Fahrt dauerte nicht lange. Denn gewiss habt Ihr schon gemerkt,
dass es nicht der Zug nach Paris war, den Eva und ihre Mutter
bestiegen. Gepäck hatten sie keines dabei. Sie fuhren zur Grossmutter,
die in einem Dorf in der Nähe der Stadt wohnte. In ihrem Garten
durfte Viktor spazieren, wenn die Sonne schien. Eva band ihn mit
dem Halsband an eine lange Leine, dass er nicht davonlaufen konnte.
Viktor schnupperte. "Kaffee", flüsterte er, so dass es Esmeralda
hören konnte, die sich noch immer im Korb versteckte. "Die Grossmutter
hat Kuchen gebacken."
"Denktst du nur ans Fressen?"
"Nein, sie gehen bald Kaffee trinken und Kuchen essen. Und dann..."
Er redete nicht mehr weiter, er wusste nämlich gar nicht, was
sie dann unternehmen wollten. Eva brachte auf einem Teller ein
ordentliches Stück Schokoladekuchen und stellte es vor den Kater
hin. "Hier, mein lieber Viki. Auch du darfst ein Stücklein leckeren
Kuchen essen. Und nun warte schön brav hier, ich komme gleich
wieder."
Viktor strich ihr schurrend um die Beine und rieb seinen Kopf
an ihren Füssen. Dann machte er sich über den Kuchen her. Esmeralda
traute sich aus ihrem Versteck und frass die Krümel auf, die Viktor
übrigliess.
"Macht schnell", flüsterte Max. "Die Luft ist rein. Wir müssen
abhauen."
"Wohin denn?"
"Nach Paris, denke ich."
"Aber Viktor ist ja angebunden."
"Kein Problem. Esmeralda nagt die Leine durch."
"Soll ich wirklich..."
"Dann mach schon. Sie kommen gleich wieder in den Garten", drängte
Viktor. Ängstlich schaute er zum Haus.
Esmeralda nagte mit ihren scharfen Zähnen rasch die Leine entzwei,
Viktor brachte sich mit einem Sprung in einem Fliederbusch in
Sicherheit. Dahinter umgab ein Zaun den Garten. Esmeralda schlüpfte
durch die Zaunstäbe hinaus. Viktor jedoch war viel zu dick. "Was
soll ich nur machen?" jammerte er verzweifelt. Schon hörten sie
die Stimme von Eva. "Viktor. Viki, wo bist du?"
"Warum schreist du so?" fragte ihre Mutter.
"Viktor ist weg. Er ist davongelaufen."
"Aber er ist doch angebunden?"
"Er hat die Leine durchgebissen."
"Unmöglich", sagte die Mutter. "Das kann Viktor nicht."
"Doch, schau hier. Die Leine ist zernagt."
Sie begannen zu suchen und zu rufen. Viktor drückte sich verzweifelt
gegen die Zaunstäbe. Eva kroch ins Gebüsch. "Da ist er ja, mein
Viki. Komm, Viktor, komm", lockte sie. "Komm Viktor, es gibt Schokoladekuchen."
Viktor miaute verzweifelt: "Helft mir doch. Sie fängt mich gleich
wieder ein!"
Da stürzte Esmeralda todesmutig direkt auf Eva los, die schon
ihre Hand nach dem Kater ausstreckte.
"Die Maus!" schrie Eva, kroch unter dem Fliederbusch hervor und
rannte zum Haus. "Da ist wieder die Maus."
"Eine Maus in meinem Garten? Das glaube ich nicht", sagte die
Grossmutter. "Viktor hätte sie doch gefressen."
"Was hast du nur mit deinen Mäusen? Neulich hast du auch im Bahnhof
eine Maus gesehen", sagte die Mutter. "Und wo ist Viktor? Vielleicht
verfolgt er sie."
"Er ist unter dem Fliederbusch. Aber dorthin gehe ich nicht mehr.
Dort versteckt sich die Maus."
Die Mutter schaute selber nach, doch sie konnte weder eine Maus
noch eine Katze sehen. Max hatte nämlich ein Loch im Zaun entdeckt,
durch das sich Viktor zwängen konnte. Und nun spazierten die drei
friedlich über die nahe Wiese. Das heisst, Esmeralda und Viktor
gingen und Max ritt, einmal hinter Esmeraldas Ohr, dann wieder
in Viktors dichter Löwenmähne.
"Sind wir schon bald in Paris?" fragte Esmeralda einmal.
"Ja, ich denke schon", knurrte Viktor. "Weit kann's nicht sein."
Max schwieg. Er wusste, dass sie noch lange nicht in Paris waren,
aber er dachte: "Wichtig ist, dass wir ein Ziel haben, auch wenn
es noch so weit weg ist."
Nach langer Zeit kamen sie zu einem Bahndamm. "Wir müssen nur
den Geleisen entlanggehen, dann kommen wir bestimmt zum Bahnhof
von Paris", meinte Esmeralda.
"Logo", knurrte Viktor. "Lieber wäre mir zwar, wir könnten einen
Zug besteigen und fahren. Ich habe schon Blasen an meinen zarten
Pfoten."
"Du bist ein verwöhnter Faulpelz", sagte Esmeralda.
"Wer sich ein Ziel gesetzt hat, muss etwas tun, um es zu erreichen",
sagte Max.
"Du kannst gut gescheite Reden halten, Floh. Du musst nicht laufen,
du kannst reiten."
"Ich kann auch denken. Wer hat das Loch im Gartenzaun entdeckt?
Ohne mich hätte sie dich längst wieder eingefangen."
"Ohne mich wärt ihr noch immer in eurem schmutzigen Bahnhof. Und
ich würde Schokoladekuchen speisen."
"Schuss jetzt. Mit Streiten kommen wir nicht weiter", drängte
Max.
"Also los."
"Na, dann gehen wir halt."
Viktor trottete nach links. Er hinkte schon ziemlich. Esmeralda
trippelte nach rechts mit dem Floh hinterm Ohr. Nach einigen Schritten
drehte sich der Kater um und rief: "He, hallo! Ihr lauft ja in
die falsche Richtung! Hier geht's durch."
"Nein, Paris liegt im Westen. Hier gehts lang, komm schon", rief
Max.
"Na, wer war schon in Paris von uns beiden? Du oder ich? Also,
komm schon, Esmeralda. Der Floh ist ohnehin auf uns angewiesen.
Da kann er noch so weite Sprünge machen, bis Paris schafft er's
nie."
Und schon war wieder der schönste Streit im Gange. Viktor wollte
nach links, Max nach rechts. Der Floh sagte, er habe in der Schule
gelernt, wo Paris liege, nämlich westwärts. Der Kater behauptete,
er sei schon oft in Paris gewesen und erinnere sich genau, dass
der Zug in die andere Richtung gefahren sei.
"Du hast wohl geschlafen, als ihr nach Paris gefahren seid", schrie
der Floh.
"Und du kennst die Welt nur aus der Schule, du dummer Floh."
Esmeralda wusste nicht, auf wen sie hören sollte. Ja, so ist das
oft. Soll man dem glauben, der etwas in der Schule gelernt hat
oder dem, der es selber gesehen und erfahren hat, was meint Ihr?
Esmeralda konnte sich nicht entscheiden, und so stritten sie,
bis ein Zug dahergebraust kam. Er kam von rechts, also aus der
Richtung, die Max einschlagen wollte. Das Kreischen der Räder
auf den Schienen erinnerte Esmeralda an den Bahnhof, an ihre schöne
Wohnung und das gute Fressen, und sie verspürte etwas Heimweh.
Ach, wäre ich doch zu Hause geblieben, dachte sie. Dort hatte
ich genug zu fressen, ein weiches Bett, viel Unterhaltung und
musste mir nie den Kopf zerbrechen, wohin ich nun gehen soll und
mit wem.
"Seht ihr jetzt, in welche Richtung der Zug fährt", rief Viktor
zornig. "Also, mir nach!"
"Dieser Zug fährt nicht nach Paris, er kommt aus Paris, du Oberdummkopf
von einem Kater."
Jetzt stürzte Viktor auf die Maus los und versuchte, mit seiner
Zunge den Floh hinter ihrem Ohr zu erhaschen. Der hüpfte auf den
Bahndamm und dann von Stein zu Stein, lachte und drehte ihm eine
lange Nase mit seinen Fühlern. Viktor rannte hin und her, bis
er völlig ausser Atem war. Dann erst merkte er, dass Esmeralda
verschwunden war.
"Esmeralda", rief er.
"Esmeralda, wo bist du? Komm hervor, wir haben Frieden geschlossen",
rief auch der Floh. Doch die Maus blieb verschwunden, so laut
sie auch riefen. Gemeinsam suchten sie den Bahndamm auf und ab,
bis es Nacht wurde und Viktor erschöpft ins Gras sank.
Da lag nun der Kater Viktor, und sein Magen knurrte. Um diese
Zeit wurde er nämlich immer gefüttert. "Kattefort", dachte er.
"Kattefort macht Katzen stark." Je länger ihm dieser Satz im Kopf
herumging, desto schwächer fühlte er sich. Er fühlte sich nicht
nur schwach, sondern auch sehr einsam. Esmeralda war verschwunden,
und mit Max hatte er sich gestritten. Viktor kroch in eine kleine
Höhle am Fuss des Bahndamms, rollte sich zusammen und versuchte
zu schlafen.
Und dann träumte Viktor. Er war wieder zu Hause in der Wohnung
seiner Herrin Eva und ihrer Mutter. Zufrieden lag er auf dem warmen
Schaffell am Fenster. Die Sonne schien herein, direkt auf seinen
Pelz. Viktor schnurrte. Ein Auge hatte er geschlossen, mit dem
andern schaute er hinaus. Auf dem Balkon landeten Vögel und pickten
Körner. Über das Dach des Hauses gegenüber spazierte eine schwarze
Katze. Unten im Hof spielten Kinder. Immer war etwas Interessantes
zu sehen. Und wenn es draussen langweilig war, schaltete Eva oft
den Fernseher ein. Jetzt trat sie in den Salon und rief: "Lieber
Viki, gleich bekommst du zu fressen." Ach, war es schön zu Hause.
Es war warm, man musste nichts tun, keinen Schritt laufen und
bekam regelmässig zu fressen und zu trinken. Viktor fühlte sich
rundum wohl. Gleich würde es einen Teller Kattefort geben oder
sogar ein Stück Schokoladekuchen.
Plötzlich wachte er auf und fror. Ein Zug fuhr vorbei, die Räder
kreischten und pfiffen und Funken sprühten von den Schienen. Viktors
Magen knurrte erbärmlich. Irgendwo im Gras hörte er etwas rascheln.
Ein Hund vielleicht? Oder gar ein Fuchs? Sein Herz klopfte vor
Angst. Ach, wäre ich doch nicht durchgebrannt, ging ihm durch
den Kopf. Was war ich nur für ein Dummkopf, dass ich mich einer
Maus und einem Floh einliess. Schnell versuchte er wieder einzuschlafen.
Vielleicht bekomme ich wenigstens im Traum mein Futter, hoffte
er. Und Angst haben muss ich auch nicht, wenn ich schlafe. Er
rollte sich ganz eng zusammen und versteckte den Kopf zwischen
den Pfoten.
Bald hörte er wieder Evas Stimme: "Viki, da hast du etwas ganz
Feines zu fressen." Stand etwa schon sein Teller bereit? Er blinzelte
mit einem Auge. Dann sah er vor sich Esmeralda, die Schienenmaus.
Evas Stimme schrillte: "Viktor, die Maus! Friss die Maus, friss
sie!"
Er schreckte auf. "Niemals! Nein, niemals fresse ich sie!" Er
erwachte, und sein Herz pochte rasend.
"Was sagt er da?" Viktor hörte eine Stimme dicht neben seinem
Ohr. Es war Max, der Floh.
"Niemals fresse ich eine Maus! Niemals!"
"Das wollen wir hoffen", hauchte Esmeralda. Max hatte sie mit
seiner feinen Nase aufgespürt und sie überredet, zurückzukehren.
"Ich hatte einen schrecklichen Traum", erzählte Viktor. "Ich habe
geträumt, ich müsse eine Maus fressen."
"Etwa mich?" fragte Esmeralda leise.
"Das ist nur, weil ich einen so schrecklichen Hunger habe. Das
sind Halluzinationen."
"Was für Nazionen?" Esmeralda lachte. "Komm, lass uns schlafen.
Morgen finden wir bestimmt etwas zu fressen." Sie legte sich nahe
an den Hals des Katers, dass seine weiche Mähne sie fast ganz
bedeckte.
"Eher würde ich verhungern, als dich fressen", flüsterte Viktor.
Er leckte Esmeraldas Kopf mit seiner rauhen Zunge so zart es nur
ging. Sie wurde ganz nass, aber das machte ihr nichts aus. Viktor
spürte nicht einmal, dass ihn der Floh derweil genussvoll in den
Hals biss und dabei murmelte: "Das ist die Strafe dafür, dass
du mich einen dummen Floh genannt hast."
Am andern Morgen wanderten sie weiter, bis sie zu einem Haus kamen.
Neben der Tür stand ein Teller. Er war mit Milch gefüllt, und
Brotbrocken schwammen darin. Viktor stürzte geradewegs auf den
Teller los, doch da sprang ihm eine Tigerkatze in den Weg, duckte
sich tief, fauchte und peitschte mit ihrem Schwanz den Boden.
Viktor drehte sich um und rannte davon. So schnell hatte ihn Esmeralda
noch nie laufen sehen.
"Was, du hast Angst vor einer kleinen Tigerkatze", lachte sie,
als sich Viktor zitternd hinter einer Hecke versteckte.
"Du hast gut reden", stammelte er, noch immer ausser Atem. "Bauernkatzen
sind gefährlich."
"Ja, vor allem für uns Mäuse", sagte Esmeralda. "Aber doch nicht
für einen so mächtigen Kater wie du."
"Glaubst du? Hast den du gar keine Angst?"
"Warum sollte ich Angst haben? Ich kann schneller laufen als Katzen",
sagte Esmeralda. "Und ich finde überall Unterschlupf."
"Dann könntest du die Tigerkatze ja vom Teller weglocken. Sie
würde dir nachlaufen, und ich könnte etwas aus ihrem Teller fressen."
"Das würde dir so passen, du Angsthase."
"Sag nicht Hase zu mir! Ich lass dir dann ein paar Bissen übrig."
"Soll ich etwa Löwe zu dir sagen?"
"Das gefällt mir schon besser."
"Dann zeig deinen Löwenmut! Ein Löwe kämpft, der rennt doch nicht
davon."
Es blieb Viktor nichts anderes übrig, es nochmals zu wagen. Erstens
wollte er sich nicht blamieren, und zweitens hatte er schrecklichen
Hunger. Die Tigerkatze bewachte noch immer ihren Teller, knurrte
und fauchte.
"Was soll ich machen? Sie lässt mich nicht ran", fragte Viktor.
Esmeralda, die hinter ihm hertrippelte, flüsterte: "Duck dich
und knurre, so fest du kannst. Und lass deine Augen gefährlich
blitzen."
Viktor duckte sich und knurrte.
"Denk daran. Kattefort macht Katzen stark!"
Viktor knurrte so laut er konnte, sperrte sein Maul auf und zeigte
seine Zähne.
Die Tigerkatze wich langsam zurück.
"Gut gebrüllt, Löwe. Siehst du! Sie hat Angst. Und jetzt los!"
Viktor liess seine Augen blitzen und peitschte mit dem Schwanz
den Boden, dass Staub aufwirbelte. Seine Mähne sträubte sich.
Da fauchte die Tigerkatze, wich aber immer weiter zurück. Knurrend
sah sie zu, wie sich Esmeralda und Viktor über ihren Teller hermachten.
"Das Brot ist gut", sagte Esmeralda mit vollem Mund. "Wir sind
gewiss schon bald in Paris."
"Kattefort wäre mir zwar lieber", mampfte Viktor. "Aber in der
Not frisst die Katz auch Brot."
Da trat eine Frau aus dem Haus. "Fremde Katzen!" rief sie zornig
und griff nach einem Besen. "Und eine Maus! Haut ab ihr Schmarotzer!"
Drohend holte sie mit dem Besen aus und wollte ihn auf Viktors
Rücken niedersausen lassen. Da erstarrte sie plötzlich. "Mein
Gott, das ist ja die Katze aus dem Fernsehen!" rief sie aus. "Friss
nur weiter, friss. Ich kenne dich genau." Sie verscheuchte mit
dem Besen die Tigerkatze.
Viktor schleckte sich das Maul. Die Frau streichelte Viktor und
kitzelte ihn am Hals. "Du bist noch schöner als im Fernsehen.
Und so lieb bist du, dass du nicht mal einem Mäuschen etwas zuleide
tust."
Dann lief ins Haus, kam mit einer Büchse wieder heraus und füllte
den Teller bis zum Rand. "Da habe ich sogar noch Kattefort für
dich. Du bist ja ganz ausgehungert. Hast du dich etwa verirrt,
du armes Tier?"
Esmeralda und Viktor frassen gemütlich weiter. Die Frau sagte:
"Ich muss gleich der Polizei anrufen. Bist du etwa gar davongelaufen,
du Schlingel?"
Dann zuckte sie zusammen. "Aua!" Sie kratzte sich an den Beinen,
am Bauch, am Rücken, am Po und sogar in den Haaren. "Flöhe hast
du auch noch, du arme Katze. Das darf ja nicht wahr sein." Sie
eilte ins Haus zum Telefon. Esmeralda und Viktor spazierten davon.
Ihre Bäuche waren so voll, dass sie nur noch langsam gehen konnten.
Die Tigerkatze schlich ihnen knurrend nach, aber sie drehten sich
nicht nach ihr um.
"Kattefort ist wirklich spitze, auch für Mäuse", sagte Esmeralda
zum Floh, der hinter ihrem Ohr sass. "So gut hat es mir schon
lange nicht mehr geschmeckt."
"Mir auch nicht", sagte der Floh und mahlte genussvoll mit seinem
starken Kiefer.
Nach einem langen Mittagsschläfchen wanderten sie weiter der Eisenbahn
entlang. Schnurgerade zogen sich die Schienen dahin. Ab und zu
brauste ein Zug vorbei. Jedesmal jammerte Viktor: "Oh, könnten
wir doch einsteigen und mitfahren." Er sagte es, egal aus welcher
Richtung der Zug kam. Und stets gab der Floh zurück: "Dir ist
offenbar gleich, wohin du fährst. Du willst bloss nicht mehr laufen,
du Faulpelz. Hast du unser Ziel vergessen? Willst du nicht nach
Paris?"
"Was soll ich in Paris, in diesem Zustand? Meist du, so würden
die mich zur Katzenausstellung zulassen?"
Viktor sah wirklich erbärmlich aus. Sein Fell war zerzaust und
voll filziger Knoten. Seine grossen Kugelaugen hatten schmutzige
Ränder. Die Pfoten waren geschwollen und schmerzten bei jedem
Schritt. Und seine Ohren waren voller Schmutz und Staub.
"Du musst dich waschen und putzen wie Esmeralda", sagte der Floh.
"Sie ist stets sauber und hübsch, auch wenn sie durch Schlamm
und Staub trippelt."
Viktor gab keine Antwort. Er biss die Zähne zusammen und trottete
weiter. Dann sahen sie in der Ferne eine Stadt.
"Vielleicht ist das Paris", seufzte Esmeralda, denn auch sie war
schon recht müde. Sie war zwar flink, aber sie musste viel mehr
Schritte machen als der Kater. Auf dem Weg neben dem Bahndamm
kam ihnen ein Mann entgegen, und neben dem Mann marschierte ein
Schäferhund. Als er Viktor erblickte, bellte er, nahm einen mächtigen
Satz und riss dem Mann die Leine aus der Hand.
"Komm zurück Borro!" rief der Mann, doch der Schäferhund schoss
geradewegs auf Viktor los.
Viktor blieb wie angewurzelt stehen, machte einen Buckel und fauchte
wild. Der Mann rief und gestikulierte. Doch Borro jagte mit aufgesperrtem
Rachen und hängender Zunge direkt auf den Kater los. Er hatte
riesige Zähne und Speichel tropfte ihm von den Lefzen.
"Was soll ich tun?" rief Viktor verzweifelt.
"Ich lenke ihn ab", piepste Esmeralda. "Und du hau ab. Am besten
auf einen Baum, da kann er dir nicht folgen."
"Und ich beisse ihn so fest ich kann!" Max knirschte mit seinen
Kiefern und sträubte seine Stacheln.
Wie der Blitz schoss Esmeralda auf den Hund zu. Borro stoppte
so heftig, dass er überkugelte. Max sprang ihm ins Gesicht und
biss sich über seinem linken Auge fest.
"Er ist sonst so lieb", rief der Mann verzweifelt und rannte hinter
Borro her, der nun Esmeralda verfolgte. Sie floh mit grossen Sprüngen
und verschwand flink in einem Rohr unter dem Bahndamm.
Borro bellte und jaulte, denn die Flohbisse schmerzten ihn. Er
wälzte sich im Gras, bis ihn der Mann wieder an die Leine nehmen
konnte. "Platz!" befahl er. Borro legte sich auf den Boden und
war wieder der bravste Hund der Welt.
Viktor aber lief noch immer um sein Leben. Er hetzte dem Bahndamm
entlang, weil er meinte, Borro sei ihm noch immer auf den Fersen.
Hinter sich glaubte er noch immer sein Keuchen und Zähnefletschen
zu hören. Schliesslich sah er eine Telefonstange. In Todesangst
kletterte er den glatten Stamm hinauf. Zuoberst zwischen den Drähten
und Isolatoren krallte sich Viktor fest. Er rang nach Atem, doch
durch seine flache Nase bekam er kaum noch Luft. Tränen flossen
ihm aus den Augen. Er wagte vor lauter Angst nicht, den Kopf zu
drehen und in die Tiefe zu schauen.
Nach langer Zeit hörte er am Fuss des Baumes eine feine Stimme:
"Du kannst herunterkommen, Viktor. Die Luft ist rein." Es war
Esmeralda. Viktor schaute hinab. Esmeralda stand am Fuss der Telefonstange,
er konnte sie nur als winzigen Punkt sehen. Der Abgrund war so
tief, dass ihn beinahe der Schlag traf. Viktor wagte nicht mehr,
sich vom Fleck zu rühren. Esmeralda konnte zwar gut klettern,
aber die Telefonstange war ihr zu hoch. Nach ein paar Metern musste
sie umkehren. Und auch Max konnte springen, so hoch er wollte,
er erreichte den armen Kater nicht.
Zwei grosse Tauben kamen aus der Stadt geflogen und liessen sich
auf den Telefondrähten neben dem Kater nieder. Sie sahen, wie
er sich anklammerte und machten sich über ihn lustig. "Schau mal,
wie die dumme Katze Angst hat", lachte die eine.
"Das geschieht ihr recht. Sonst müssen wir vor den Katzen Angst
haben. Meine Nachbarin wurde letzthin von einer Tigerkatze gefressen."
Viktor murmelte: "Ich heisse Viktor von Nesselbach, bin eine Rassenkatze
und habe noch nie einem Vogel etwas zuleide getan. Fragt die Maus
Esmeralda oder den Floh Max da unten." Da mussten die Tauben noch
mehr lachen, so fest, dass sie beinahe von den Telefondrähten
gefallen wären. Sie flatterten Viktor ganz nahe um den Kopf, fächelten
ihm mit den Flügeln Luft zu, hänselten ihn und flogen schliesslich
davon.
Der Mann mit dem Schäferhund Borro kehrte von seinem Spaziergang
zurück und hörte den Kater auf der Telefonstange jämmerlich miauen.
Borro bellte und sprang an der Telefonstange hoch. "Sitz!" befahl
der Mann. Er schaute hinauf, dachte nach und sagte dann zu sich:
"Die arme Katze. Sie sieht aus wie der Kater vom Kattefort aus
dem Fernsehen." Er fütterte nämlich Borro mit Fleisch aus der
Büchse, das Canefort hiess und ebenfalls im Fernsehen angepriesen
wurde.
Der Mann eilte mit raschen Schritten davon. Kurz darauf dröhnten
Sirenen, Blaulicht blinkte. Zwei grosse rote Autos kamen aus der
Stadt herangebraust und hielten bei der Telefonstange an. Es war
die Feuerwehr. Eine Leiter fuhr in die Höhe. Viktor krallte sich
noch fester an die Telefonstange, doch der Feuerwehrmann, der
hinaufstieg, rief ihm zu: "Nur ruhig bleiben, Viktor. Wir retten
dich und bringen dich nach Hause."
Jetzt wundert ihr euch, woher er den Namen des Katers wusste.
Ganz einfach: Der Mann mit dem Hund hatte der Polizei telefoniert.
Und diese hatte eine Vermisstmeldung von Evas Mutter erhalten.
Man hatte ihn schon überall gesucht. Deshalb kam jetzt ein Auto
gefahren, daraus stiegen Eva und die Dame. Eva trug den Korb mit
dem Gitter.
"Komm Viki, mein armer Viki", rief sie, als der Feuerwehrmann
den Kater die Leiter herabtrug. Viktor wehrte sich, biss und kratzte.
Der Feuerwehrmann fluchte.
Viktor biss und kratzte noch, als ihn Eva und ihre Mutter zu Hause
duschten, badeten, fönten, striegelten und kämmten und seine tränenden
Augen putzten. Er zeigte seine Krallen, als sie ihm die wunden
Pfoten mit Salbe behandelten. Er schlug mit dem Schwanz, als ihm
Evas Mutter die Knöpfe aus dem Fell schnitt. Er fauchte, als sie
ihm ein Flohhalsband anzogen, denn die Mutter sagte: "Selbst Flöhe
hat er bekommen, der Vagabund. Sein ganzer Hals ist voller Flohbisse."
Und er knurrte, als ihn Eva aufs Kistchen setzte und sagte: "Schau,
hier haben wir dir schönen frischen Sand hineingeschüttet, lieber
Viktor."
Erst als ihm Eva einen Teller voller Kattefort hinstellte, frass
er ihn hastig leer, miaute und bekam noch einen und dann noch
einen dritten. Und dann bekam er auch noch ein grosses Stück Schokoladekuchen.
Dann legte er sich aufs Schaffell am Fenster, rollte sich ein,
schnurrte ein wenig und schlief dann fest.
Viktor träumte, er wandere mit Esmeralda und dem Floh weiter den
Schienen entlang bis zu einem Bahnhof. Dort stiegen sie in den
nächsten Zug. Der Zug setzte sich in Fahrt, sie lagen auf weichen
Polstern, schliefen, schauten aus dem Fenster und frassen ab und
zu aus einem Teller, den ihnen der Kondukteur hinstellte. Vor
dem Fenster flogen zwei Tauben. Viktor zeigte seine Krallen und
seine Zähne. Da lachten sie und riefen: "Grüss unsere Verwandten
in Paris, Viktor von Nesselbach!" Einmal rannte die kleine Tigerkatze
dem Zug nach, doch Viktor streckte ihr nur die Zunge heraus.
Dann fuhr der Zug langsam in einen riesengrossen Bahnhof ein.
"Wir sind in Paris!" krähte Max und machte einen Luftsprung. "Oh,
wir sind in Paris", hauchte Esmeralda. Sie machte das Männchen
und schaute Viktor mit ihren winzigen Mausaugen glücklich an.
Da wachte er auf. Er lag auf seinem Schaffell am Fester. Die Sonne
schien ihm auf den Pelz. Er fuhr sich mit den Pfoten über die
Augen und dachte: "Habe ich etwa alles nur geträumt?"
Esmeralda und Max zogen weiter. Sie hatten gesehen, wie Viktor
eingefangen und weggebracht worden war. "Vielleicht ist es besser
so", meinte der Floh. "Er hätte es ohnehin nicht bis Paris geschafft
mit seinen zarten Füssen. Esmeralda schwieg. Sie war traurig.
Doch sie wusste, dass das Max nicht verstand. Er hatte nur ein
Ziel im Kopf: Den Flohzirkus des Herrn Otawa.
Dann kamen sie zu einem Bahnhof. Es war nicht ein Bahnhof, wo
Menschen ein- und ausstiegen, es war ein Güterbahnhof. Lastwagen
fuhren vor, beladen mit Kisten, Säcken und Containern. Arbeiter
transportierten mit Hubstaplern die Lasten ins Magazin oder luden
sie in die Güterwagen. Da hatte der Floh eine Idee. Auf vielen
Gepäckstücken stand in grossen Buchstaben angeschrieben, wohin
sie geschickt werden sollten. Und es dauerte nicht lange, bis
er eine Kiste entdeckte, auf der PARIS stand.
"Nichts wie hinein", rief er aus. "Und morgen sind wir am Ziel
unserer Träume. Dann steigen wir auf den Eiffelturm, wir besuchen
die Kathedrale von Notre Dame, den Montmartre, die Bilderausstellung
im Louvre. Am Abend gehen wir ins Cabaret oder in die Oper."
"Auch den Flohmarkt?"
"Meinetwegen auch den Flohmarkt. Und dann suchen wir uns eine
kleine Wohnung unter den Schienen, die richten wir gemütlich ein.
Ich werde im Flohzirkus arbeiten und du kannst für den Haushalt
sorgen."
Wieder sagte Esmeralda nichts. Sie schnupperte an der Kiste, auf
der PARIS stand. Dann begann sie zu knabbern und schon bald hatte
sie ein Loch genagt, durch das sie schlüpfen konnte. Die Kiste
war mit weichem Stoff gefüllt, der wunderbar duftete. Esmeralda
machte es sich bequem und schon bald spürte sie, wie die Kiste
vom Boden abhob und davonschwebte. Max kauerte hinter ihrem Ohr,
klapperte mit seinen Kiefern vor Begeisterung und seine Fühler
zitterten.
"Aua! Du musst mich deswegen nicht gleich beissen", fuhr Esmeralda
plötzlich auf.
"Ich habe dich doch nicht gebissen!" protestierte Max.
"Doch, hinter meinem rechten Ohr."
"Ich sitze ja hinter deinem linken Ohr und geniesse die Fahrt.
Jetzt hat uns der Kran auf dem Güterwagen abgesetzt. Gleich geht
es los."
"Welches ist denn mein linkes Ohr?"
"Links ist, wo der Daumen rechts ist."
"Ich habe keinen Daumen, ich habe Krallen."
"Doch, du hast eine Daumenkralle. Und wo deine rechte Daumenkralle
ist, da ist links."
Max war richtig übermütig, so freute er sich, dass sie nun so
bequem und ohne Billett nach Paris fahren konnten.
"Aua! Hör auf!" schrie jetzt Esmeralda wütend. "Schon wieder hat
du mich gebissen!"
"Ach nein, wo denn diesmal?"
"Hinten am Schwanz."
"Da muss ich wohl einmal nachschauen."
Max spazierte durch Esmeraldas Fell nach hinten. Dort hockte tatsächlich
ein grosser Floh. Das heisst, es war eine Flohfrau. Max begrüsste
sie und stellte sich vor.
"Ich heisse Lex", sagte die Flohfrau.
"Und woher kommst du?"
"Aus der Fabrik, wo sie diesen schönen Stoff weben. Dort lebte
ich in der Achselhöhle einer Arbeiterin."
"Und du fährst also nach Paris, nehme ich an."
"Vielleicht", sagte die Flohfrau. "Irgendwohin. Ich reise einfach
gern. In der Fabrik war es langweilig."
"In Paris soll es einen berühmten Flohzirkus geben."
"Ich weiss", hauchte Lex. "Direktor ist der Herr Otawa."
"Du kennst ihn?" staunte Max. "Begleitest du mich? Ich will dort
auftreten."
Lex schüttelte den Kopf so fest, dass ihre Stachelkämme klapperten
und Esmeralda rief: "Ist da jemand?"
"Wir haben charmante Gesellschaft bekommen", rief Max. "Die Flohfrau
Lex. Sie kommt mit uns nach Paris."
"Aber nicht in den Zirkus. Der Herr Otawa fesselt nämlich seinen
Flöhen die Hinterbeine mit feinen Golddrähten. Damit sie ihm nicht
davonlaufen können. Wenn er sie tanzen lässt, sieht das nur so
aus. Eigentlich wollen sie fliehen."
"Ist das wahr?" fragte Max? "Wer sagt das?"
"Das hört man halt, wenn man in der Welt herumkommt."
"Dann muss ich es mir wohl nochmals überlegen", sagte Max unsicher.
"Gar nichts musst du dir überlegen", sagte Lex. "Im Flohzirkus
nehmen sie nämlich nur Flohfrauen. Weil wir stärker sind als ihr
Flohmänner." Lex lachte, streckte sich und Max sah, wie starke
Beine, Kiefer, Stacheln und Borsten sie hatte. Kleinlaut kroch
er durchs Fell der Maus bis zu ihrem Ohr.
"Was ist los?" fragte Esmeralda "Ist etwas passiert?"
Max schwieg. Er musste sich zuerst an den Gedanken gewöhnen, dass
er nun ein neues Ziel suchen musste.
Auch uns passiert das manchmal, dass wir uns etwas ganz fest wünschen.
Und irgendwann müssen wir den Traum dann aufgeben. Auch wir brauchen
dann Ruhe und Zeit zum Nachdenken.
"Max, hast du die Sprache verloren?" fragte Esmeralda. Als er
immer noch keine Antwort gab, seufzte sie: "Ach, Flöhe sind komisch."
Sie legte ihren Kopf auf den weichen Stoff und schlief ein. Und
spürte nicht mehr, dass sie zweimal kräftig in den Schwanz gebissen
wurde.
Nach langer Zeit erwachte Esmeralda durch einen Stoss. Die Kiste,
in die sie weich gebettet lag, wurde unsanft auf den Boden gestellt.
"Wir sind in Paris", rief Max, "nichts wie raus an die Luft."
Esmeralda streckte vorsichtig ihre Nase aus dem Loch ins Freie.
Max sass hinter ihrem linken Ohr, Lex hinter ihrem rechten. Sie
erkannte einen Bahnsteig. Menschen mit Koffern, Taschen, Schirmen
und Mappen gingen vorüber. Rasch huschte Esmeralda zwischen den
Schuhen der Menschen hindurch über den Bahnsteig. Ein Mädchen
sah sie und kreischte. Esmeralda kletterte durch eine Ritze hinab
zu den Geleisen, hüpfte über die Steine und fand unter einer Schiene
eine Höhle. Darin kauerte eine Maus. Sie war klein, braun, hatte
einen langen Schwanz, runde Ohren und einen hellen Fleck auf der
Brust. Sie zuckte zusammen, als sie Esmeralda sah, und drückte
sich scheu an die Wand.
"Guten Tag", piepste Esmeralda, noch etwas ausser Atem. "Keine
Angst, ich tu dir nichts."
"Ach, hast du mich aber erschreckt", hauchte die Maus. "Ich habe
in diesem Bahnhof noch selten eine Maus gesehen."
"Ich dachte, in Paris gibt es viele Mäuse" sagte Esmeralda.
"Vielleicht", sagte die Maus. "Ich kenne nur den Bahnhof und dieses
Geleise und sonst nichts von der Welt. Weisst du, ich bin ein
wenig schüchtern."
Dann stellten sie sich gegenseitig vor. Die Maus, das heisst,
es war ein Mäuserich, hiess Pascal. Ihr wisst ja, Mäuse haben
schöne Namen. Pascal klang ziemlich französisch. Deshalb fragte
Esmeralda: "Wir sind doch hier in Paris, nicht wahr?"
"Vielleicht. Ich weiss nur, dass hier ein grosser Bahnhof ist.
Und dass schon mein Vater, mein Grossvater und mein Urgrossvater
hier gelebt haben."
"Ach", sagte Esmeralda. "Dann hast du wohl nichts dagegen, wenn
wir einstweilen bei dir absteigen, bis wir etwas Passendes gefunden
haben."
"Wir? Wo ist denn deine Begleitung?" Pascal schaute sie erschrocken
an.
"Auf meinem Kopf. Hinter dem linken Ohr hockt Max und hinter dem
rechten Ohr Lex." Esmeralda lächelte. "Ein nettes Flohpärchen.
Max, der Mann, begleitet mich schon lange. Seine Frau hat er erst
auf der Reise kennengelernt."
"Flöhe? Bäh pfui. Die beissen aber", sagte Pascal und rümpfte
seine feine Nase.
"Dafür sind sie gescheit. Stell dir vor, Max kann sogar lesen."
"Sicher? Dann soll er doch einmal lesen, was auf dem Plakat steht,
das sie gestern hier aufgehängt haben."
Esmeralda drehte sich um und schaute geradewegs in Viktors grosse
gelbe Augen.
"Das ist ja Viktor", rief sie überrascht aus.
"Du kennst diesen bösen Kater? Oder ist es gar ein Löwe? Er hat
so wilde Augen."
"Viktor von Nesselbach ist ein vornehmer roter Perserkater und
ganz harmlos. Er macht Reklame für Katzenfutter."
Max krähte: "Kattefort macht Katzen stark, steht auf dem Plakat."
Und Lex flüsterte er ins Ohr: "Ach, wenn sie doch lesen könnten,
die dummen Mäuse."
"Ich kann doch auch nicht", flüsterte Lex zurück.
"Das werde ich dir alles noch beibringen. Und noch viel mehr",
flüsterte Max zärtlich und streichelte sie mit seinen Vorderbeinen.
Esmeralda hörte sie nicht. Sie sagte zu Pascal: "Viktor tritt
sogar im Fernsehen auf. Und er ist unser Freund. Vielleicht kommt
er sogar einmal nach Paris zur Katzenausstellung. Dann wirst du
ihn kennenlernen."
Als er das hörte, begann Pascal zu zittern, denn er war überaus
ängstlich. Er hatte Angst vor den Menschen und vor den Zügen und
vor Katzen ganz besonders.
"Es ist doch nur ein Plakat", tröstete ihn Esmeralda. "Und wenn
Viktor wirklich wieder einmal hierherkommt, dann liegt er in seinem
Korb, und ich glaube nicht, dass er nochmals herauskommt." Und
dann erzählte sie, wie sie Viktor vor einem Hund gerettet hatten.
Pascal staunte über ihren Mut und war beruhigt. Sie richteten
sich eine gemeinsame Wohnung ein unter der Schiene, mit Plastikfetzen
und Papiertaschentüchern und Zündholzschachteln und allem, was
die Menschen im Bahnhof fortwarfen. Lex und Max blieben bei ihnen.
Sie hatten es immer lustig in ihrer Wohngemeinschaft und genug
zu essen.
Wenn es ihnen langweilig wurde, spielten Max und Lex Flohzirkus.
Sie tanzten auf einem Glacéstäbchen, jonglierten mit kleinen Kügelchen
aus Styropor und hüpften durch runde Flaschenverschlüsse. Esmeralda
und Pascal schauten zu und klatschten Beifall.
Und auch Viktor schaute vom Plakat herab zu mit seinen grossen
gelben Augen, die immer ein wenig traurig blickten. Bis das Plakat
eines Tages überklebt wurde mit einem bunten Bild von einem richtigen
Zirkus mit Löwen, Tigern, Elefanten, Zauberern, Nummerngirls und
einem Clown.
Da seufzte Esmeralda: "Ach, unser Viktor."
"Was hast du gesagt?" fragte Pascal.
"Ist etwas?" fragten Max und Lex im Chor.
"Ach nichts", sagte Esmeralda. "Es ist gar nichts."