Textprobe aus: Schrot und Eis

Als Zürichs Landvolk gegen die Regierung putschte

Historischer Roman.
Erscheint im September 2005 im Limmat Verlag, Zürich.

Es dämmert, als die Männer sich erheben, vor das Gasthaus treten, das Beyel vor wenigen Tagen auf dem Uto-Kulm eröffnet hat, nicht weit von der Ausgrabungsstätte, wo Dürler mit der Antiquarischen Gesellschaft den Resten der Üetliburg nachforschte. Ein stattlicher Holzbau mit zwei verzierten Giebeln und einem Zwischentrakt. Mit Säulen gestützte Balkone gegen Süden bilden gedeckte Portikos. Bei warmem Wetter wird man im Freien speisen und das Alpenpanorama bewundern können.
Auf dem Vorplatz setzt der Tafelmajor zu einer kurzen Ansprache an, lobt den weitsichtigen Wirt Beyel, schlägt den Bogen vom modernen Uto-Kulm zu der zerfallenen Burg, einem Relikt des untergegangenen Feudalismus. Das Gasthaus dagegen stehe für den Aufbruch, den Drang nach oben, zum Licht der Erkenntnis. Es stehe für eine liberale Wirtschaft, die vom Tourismus, von der Neugier der Menschen nach Aus- und Einsicht, nach der Natur und ihren Wundern lebe. «Schon spricht jemand davon, eine Dampfbahn auf den Berg zu bauen, so dass Zürich zur Attraktion für Menschen aus aller Welt wird, der Üetliberg aber auch zum Erholungsziel von Alt und Jung aus der Stadt selber.» Es komme nicht von Ungefähr, fährt er weiter, dass dieser Bau im schwarzen September des vergangenen Jahres begonnen und in diesem heiteren Frühling vollendet worden sei. «Das Gasthaus auf dem Üetliberg steht als Symbol für den Fortschritt, der sich nicht aufhalten lässt, jetzt nicht und in aller Zukunft nicht!»
Die Männer klatschen, rufen: «Bravo! Es lebe der Fortschritt! Es lebe die Wissenschaft! Es lebe die liberale Schweiz!»
Dann macht man sich auf den Abstieg gegen Uto-Staffel, wo ein Zickzackweg durch den steilen Wald hinunter ins Albisgüetli führt. Einer schreitet hinter dem andern, um in der Dämmerung keinen Fehltritt zu machen, einige schwanken, vom Wein beschwingt, halten sich am Gürtel des Vordermanns fest. Man singt, scherzt und lacht.
Beim Uto-Staffel bleibt Friedrich von Dürler stehen. «Ich weiss hier einen Weg, der viel schneller ins Tal führt. Kommt einer mit?» Mit dem Alpenstock deutet er auf die Senke im Grat, dahinter, sagt er, ziehe eine Holzschleife direkt zum Kolbenhof hinab. Als geübter Berggänger rutsche er da in Windeseile zu Tal. «Wer wagt es, mich zu begleiten?»
Die Prahlhanse, die ihn zuvor als Muttersöhnchen und Gutmenschen verspottet haben, heben nur die Schultern und sehen sich an. Einer ruft, nein danke, er könnte seine Tabakspfeife dabei zerbrechen.
«Machen wir doch einen Wettlauf», schlägt Dürler vor. «Wir treffen uns im Café Littéraire. Wer zuerst ist, dem bezahlen die andern den Abendschoppen.»
«Es soll gelten!», schallt aus dem Kreis. Die Freunde sehen zu, wie Friedrich von Dürler zur Holzschleife schreitet, eine steile Rinne, bedeckt von Laub, das mit Reif überzuckert ist. Wo sie hinführt ist im Dämmerlicht nicht zu erkennen.
«Wie die Schneerunse am Tödi!», ruft Dürler aus, blickt sich um und hebt den Daumen. Dann klemmt er den Stock zwischen die Beine, lässt einen Jauchzer steigen, so wie die Linthaler Führer, wenn sie einen Schneehang abrutschen. Reif stiebt und Laub wirbelt auf, das Hündchen folgt ihm mit Gekläff, überkugelt sich, kommt wieder auf die Beine. Dürler verschwindet im Abgrund.

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Friedrich von Dürler