Erzählt von Emil Zopfi - Bilder von Pieter Kunstreich. Das Buch ist leider vergriffen.
Die Bewohner der Wiese hielten eine Versammlung ab.
"Es wird immer schlimmer", rief der Tausendfüßler, der den Vorsitz
hatte.
"Ja, es wird immer schlimmer". summte die Mücke.
"Immer schlimmer, schlimmer, schlimmer", zirpte erregt die Grille.
"Schlimm, schlimm", brummte der Maikäfer und fraß gleich wieder
an seinem Blatt weiter.
"Was wird denn immer schlimmer?" erkundigte sich die Schnecke,
die wieder einmal zu spät gekommen war.
"Das Gift, das Gift", zirpte die Grille. "Das Gift, das Gift."
"Ruhe", rief der Tausendfüßler und klopfte mit seinen fünfhundert
rechten Füßen auf ein Blatt. "Wir haben uns versammelt um zu beraten,
wie wir uns wehren können. Die Menschen behaupten, wir seien schädlich.
Deshalb streuen sie das Gift aus."
"Ach so, die Schneckenkörner", sagte die Schnecke.
"Natürlich denkst du nur immer an dich selbst", brummte der Maikäfer.
"Gärten, Wiesen, Felder, Bäume spritzen sie mit ihrem Gift", zirpte
die Grille.
"Auch den Fluß, an dem wir abends tanzen, haben sie vergiftet",
summte die Mücke.
"Das Schlimmste ist die Luft. Man kann bald nicht mehr atmen",
beklagte sich der Maikäfer und ein Hustenanfall schüttelte ihn.
"Ja wirklich, es ist schlimm", pflichtete nun auch die Schnecke
bei. "Es ist ja nicht mehr auszuhalten." Und rasch zog sie sich
in ihr Haus zurück.
"So sind die Schnecken", zirpte die Grille wütend. Alle redeten
durcheinander, bis der Tausendfüßler wieder mit seinen fünfhundert
rechten Füßen auf das Blatt klopfte.
"Wir müssen eine Lösung finden", sagte der Tausendfüßler. "Es
darf nicht mehr schlimmer werden. Wer einen Vorschlag hat, soll
sich melden."
Aber niemand meldete sich. Alle schauten sich ratlos an. Die Mücke
summte traurig: "Wir sind so klein und schwach, und die Menschen
sind so riesengroß und mächtig."
"Biene, vielleicht weißt du einen Rat", sagte endlich der Tausendfüßler.
"Du kommst weit herum und kennst die Menschen am besten von uns
allen."
Die Biene saß still auf einer Löwenzahnblüte und nahm nur manchmal
einen kleinen Schluck Nektar. Sie nickte. "Ich habe gehört, daß
die Menschen über dem Berg im nächsten Tal eine große
Fabrik gebaut haben. Vielleicht stellen sie dort Gift her."
"Über dem Berg?" hauchte die Mücke.
"Da werde ich nie hinkommen."
"Früher schwärmten wir oft am Abend aus bis über den Berg", stöhnte
der Maikäfer.
"Aber in meinem Zustand...", und wieder hustete er fürchterlich.
"Liebe Biene", sagte schließlich der Tausendfüßler. "Ich habe
zwar tausend Füße, aber die tragen mich nicht weit. Keiner von
uns kommt über den Berg außer dir. Wir bitten dich deshalb, für
uns auf Erkundung auszuziehen."
"Ich habe keine Zeit, Freund", summte die Biene. "Es ist Frühling.
Ich muß arbeiten, Nektar, Pollenkörner und Wasser herbeischleppen
für die Brut. Ich habe hier schon viel Zeit versäumt." Aber schließlich
ließ sie sich überreden.
Am andern Morgen flog die Biene über den Berg. Schon von weitem
sah sie die riesige Fabrik. Aus hohen Schornsteinen qualmte Rauch
und verpestete die Luft. Durch ein großes Tor fuhren Lastwagen
in die Fabrik und verließen sie vollbeladen mit Säcken und Behältern.
Überall stiegen stinkende Dämpfe auf und machten der Biene zu
schaffen. Es wurde ihr elend und schwindelig. Mit letzter Kraft
klammerte sie sich an das Fenstersims einer Fabrikhalle.
Nun war sie sicher, daß hier das Gift hergestellt wurde, mit dem
die Menschen ihren Freunden auf der Wiese das Leben schwer machten.
Aber was konnte man dagegen tun? Während die Biene nachdachte,
hörte sie plötzlich ein feines Summen. War es möglich, daß sich
noch andere Insekten an diesen schrecklichen Ort verirrt hatten
?
Sie folgte dem Geräusch. Schließlich fand sie einen Spalt, durch
den sie ins Innere der Fabrikhalle schlüpfen konnte. Das Summen
drang aus einem roten Schrank, der etwa so groß war wie ein Bienenhaus.
Neugierig näherte sie sich einer Öffnung. Schwupp, schon wurde
sie von einem Luftstrom ins Innere des Schranks gewirbelt.
Als sich die Biene an die Dunkelheit gewöhnt hatte, sah sie, daß
sie inmitten einer Schar Käfer gelandet war. Sie hatten dicke
schwarze Körper und viele glänzende Beine.
"Was seid denn ihr für seltsame Insekten?" fragte sie. Die schwarzen
Käfer summten und summten vor sich hin, ohne von der Biene Notiz
zu nehmen. Sie wirkten sehr beschäftigt.
Nur der allerkleinste Käfer rief ihr zu: "Wir sind Computerkäfer
und du?"
"Computerkäfer? Ach, von euch habe ich noch nie gehört. Ich bin
eine Biene."
"Eine Biene?" lachte scheppernd ein dicker Computerkäfer. "Eine
Mißgeburt mit sechs Beinen bist du. Schau mal uns an. Selbst der
Kleine da hat vierzehn Beine. Ich habe vierundzwanzig. Und unsere
Königin hat sogar vierundsechzig."
"Pah", machte die Biene. "Ich habe zwar nur sechs Beine. Dafür
kann ich sie bewegen. Ihr seid ja alle an euren Beinen gefesselt.
Was nützen sie euch denn ?"
"Unsere Beine, du Dummkopf, die dienen dazu, die Dinge, die wir
ausrechnen, weiterzuleiten. Ich zum Beispiel kann zwei Zahlen
zusammenzählen."
"Ich kann Zahlen wegzählen", rief ein anderer Käfer.
"Ich kann viele Zahlen im Kopf behalten, ich habe ein Gedächtnis",
rief ein dicker Käfer.
"Und ich verstehe sogar Buchstaben", brummte ein anderer.
"Wir alle zusammen steuern die große Fabrik", riefen sie stolz
im Chor. "Wir sind Computerkäfer. Ohne uns würde die Fabrik still
stehen."
Und dann arbeiteten sie schnell weiter, denn das Steuern der Fabrik
war eine unheimlich strenge Arbeit.
"Wißt ihr eigentlich, was eure Fabrik herstellt?" summte die Biene
aufgebracht.
"Natürlich", gab der Käfer, der Buchstaben verstand, hochnäsig
zurück. "Wir machen Spruzzex und Herboxalin und Insectozitin und
Xeropinal."
Und der Käfer mit dem Gedächtnis rief: "Wir machen 5872 Tonnen
und 7932 Tonnen und 499 Tonnen und 1857 Tonnen."
"Gibt zusammen 16160 Tonnen", sagte ein Käfer, der rechnen konnte.
"Aber wißt ihr denn, was die Menschen damit machen?" rief die
Biene. "Sie töten die Käfer und Insekten und Schnecken draußen
auf den Wiesen. Und eure Fabrik vergiftet die Luft und das Wasser."
Die Computerkäfer arbeiteten weiter. Nur der Kleinste fragte:
"Was sind denn Wiesen? Was ist Luft? Was ist Wasser?"
"Sei still und mach deine Arbeit", fuhr ihn der mit dem Gedächtnis
an. "Wieviel gibt fünf und drei? Schnell, ich brauche die Lösung.
"Doch der Kleine hörte nicht hin. "Ist eine Wiese schön?" fragte
er die Biene.
"Wunderschön", antwortete sie. "Besonders jetzt im Frühling. Wenn
deine Beine nicht gefesselt wären, könntest du zwischen den Blumen
und Gräsern durchstreifen und den wunderbaren Duft der Blüten
einatmen."
"Ich möchte einmal eine Wiese sehen", sagte der kleine Computerkäfer.
Seine Beine begannen vor Aufregung zu zittern. "Wiesen, Blumen,
Gräser", summte er und erhitzte sich immer mehr. Da gaben die
Fesseln nach. Mit einem Ruck riß er seine Beine los.
"Hurrah, ich bin frei!" rief er.
Nun begannen die andern Computerkäfer wild durcheinanderzusummen.
"Wiesen, Blumen, Gräser, Wasser, Luft, Duft von Blüten", schrien
sie, rissen sich los und drängten sich um die Biene. Selbst einige
winzige, dreibeinige Käferchen, die sich Transistoren nannten,
befreiten sich. Und zum Schluß bewegte auch die Königin ihre vierundsechzig
zierlichen, vergoldeten Beinchen.
Die Biene kroch aus dem Schrank hinaus, und die Computerkäfer
folgten ihr in einer langen Reihe. Die Menschen, die in der Fabrikhalle
arbeiteten, erschraken und liefen entsetzt davon. Die Fabrik stand
still.
Die Computerkäfer strömten ins Freie, zerstreuten sich in den
Wiesen, und selbst die dreibeinigen Transistoren stolperten hinterher
und suchten das Weite.
Jenseits des Berges gab es ein großes Fest, als die Biene mit
einigen Computerkäfern eintraf.
Sie wurden mit Samen, zarten Blättchen, Pollenkörnern und Nektar
bewirtet. Dann zirpte die Grille zum Tanz.
Als es dunkel wurde, setzten sich Leuchtkäfer auf die Gräser und
beleuchteten den Festplatz. Da klopfte der Tausendfüßler mit seinen
fünfhundert rechten Füßen auf ein Blatt und sagte feierlich: "Ich
schlage vor, daß wir die Biene zur Ehrenbürgerin der Wiese ernennen."
Alle jubelten und klatschten und am lautesten klatschten die Computerkäfer
mit ihren vielen glänzenden Beinen. Der Tausendfüßler wollte noch
eine Rede halten, aber in der Aufregung hatte er sie vergessen.
Deshalb rief er nur: "Dank der Biene wird alles besser."
Da streckte auch die Schnecke langsam ihre Fühler aus dem Haus,
gähnte und fragte: "Was wird denn besser?"
"Es gibt keine Schneckenkörner mehr", brummte der Maikäfer. "Ach
so", sagte die Schnecke. "Und deswegen habt ihr mich gestört?"
Dann zog sie sich wieder in ihr Haus zurück.